Liebe 1962

Eine Filmkritik von Marie Anderson

Während der Nacht haben sie wohl miteinander geredet und gestritten, und nun am Morgen, wo der Film beginnt, herrscht deutliches, unvereinbares und ausführliches Schweigen zwischen diesem Paar, das sich bald darauf trennen wird. Während Riccardo (Francisco Rabal) sich schließlich so hilflos wie vergeblich bemüht, Vittoria (Monica Vitti) umzustimmen, zu halten, zurückzuholen, doch noch zu begleiten und letztlich zumindest würdig und mit leiser Ironie zu verabschieden, nimmt sich die mitunter doch zögerlich erscheinende junge Frau reichlich Zeit, um sich zu entfernen. Während Vittoria Riccardo dann noch gestattet, sie nach Hause zu begleiten, erscheint sie innerlich bereits so gründlich distanziert, dass sie ihren ehemaligen Freund nicht mehr wiedersehen will.
Innerhalb der seltsam leblos erscheinenden Vorstädte von Rom ereignet sich dieses kühl in Schwarzweiß inszenierte Liebesdrama des italienischen Regisseurs Michelangelo Antonioni, deren Kargheit in starkem Kontrast zu den lärmenden Szenen an der römischen Börse steht, wo das Spiel mit den Spekulationen umso turbulenter tost. Liebe 1962 jongliert gekonnt mit diesen drastischen Gegensätzen, von denen auch beinahe ständig die Emotionen der Protagonisten geprägt sind: der Reigen um Annäherung und Distanz, Sehnsucht und Begehren, Rückzug und Zurückweisung, verbal wie in ausdrucksstarker Körpersprache. In geradezu gleichgültige Melancholie versunken treibt die schöne Vittoria dahin, um sich für eine Weile von den Aktivitäten ihrer Umgebung einfangen zu lassen, um sich dann erneut in ihrem selbst gewählten Alleinsein niederzulassen.

An der Börse, wo ihre rastlose Mutter (Lilla Brignone) sich auf der Jagd nach einem kleinen Vermögen regelmäßig einfindet, lernt Vittoria den ebenso smarten wie arroganten Piero (Alain Delon) kennen, und es ist nur eine Frage der Zeit, dass diese beiden sich näher kommen. Der erfolgsverwöhnte Spekulant übt mit seiner selbstsicheren, unabhängigen Art einen kräftigen Reiz auf Vittoria aus, die sich ihm spielerisch annähert und dabei bemüht ist, ihr deutliches Interesse zunächst zu verbergen. Piero wiederum gibt sich gleichermaßen stolz und verführerisch, bis sich die beiden in seinem leeren Elternhaus treffen und für eine kleine Weile die Masken ein wenig lüften …

Liebe 1962 aus dem titelgebenden Jahr lief im Rennen um die Goldene Palme und wurde in Cannes mit dem Spezialpreis der Jury ausgezeichnet. Der Orientierungslosigkeit, der hier die Frage nach der Liebe vorangestellt wird, wird hier ein visueller, selten textueller und überwältigend visueller Raum geschaffen, der viel Leere zu zeigen wagt und damit eine ungefällige Tür in die Abgründigkeit oder vielleicht auch Seichtheit der menschlichen Emotionen aufstößt. Vittoria, verkörpert von einer nuancenreichen Monica Vitti, die schön(e) traurige, exzentrische letztlich Unnahbare, erobert besser als dass sie erhält, entwindet sich ihren Bindungen mit der Ambivalenz ihrer spontanen Sehnsüchte.

Da flackern innerhalb der überwiegend in ruhigem Tempo inszenierten Dramaturgie immer wieder einzelne hintergründige Themen-Tendenzen auf, die allerdings abrupt verlassen werden, wie die Anspielung auf (post)kolonialistische Strukturen bei Vittorias Geselligkeit mit ihren Nachbarinnen oder die Diskurse über Aktienkurse und materielle Mächte. Dann rückt der Fokus wieder auf die präzise beobachteten und doch vage gehaltenen Befindlichkeiten der Hauptcharaktere Vittoria und Piero, die bei Zeiten wie launige Teenager umeinander lauern und balgen. Und am Ende erscheint nur noch der Raum mit der Leere, die beide hinterlassen, und die ihnen doch folgen wird.

Nicht selten wird bestätigt, dass intensive Liebe und Melancholie keine allzu weit entfernten Verwandten sind. In diesem Sinne konzentriert sich Michelangelo Antonioni auf die Schwermut der im Grunde banalen, jedoch höllisch intimen Zweisamkeit, der kein Verweilen gelingt und die auch nicht in zuverlässige Vertrautheit mündet. Und es schwebt sanft die bitter-böse These in der Luft, dass die solide Dauer der Tod der schwärmerischen, idealistischen Liebe sein könnte.

Doch derart simpel ist die Filmsprache und –kunst des italienischen Regisseurs von Die mit der Liebe spielen / L’avventura (1960) und Die Nacht / La notte (1961) – die Vorgängerfilme der Trilogie, die mit Liebe 1962 beschlossen wird – keineswegs, als dass sie diese uralte, wenig spektakuläre Weisheit präsentieren sollte. Das, was hier Unaussprechlich transportiert wird, lässt sich schwerlich in Verbales übersetzen, so dass eine ausgesprochen eindringliche Macht der Bilder und Bewegungen entsteht, die Michelangelo Antonioni als wahres Regie-Talent auszeichnen, das damit die Verfinsterungen der Liebe äußerst ansprechend visualisiert hat.

Liebe 1962

Während der Nacht haben sie wohl miteinander geredet und gestritten, und nun am Morgen, wo der Film beginnt, herrscht deutliches, unvereinbares und ausführliches Schweigen zwischen diesem Paar, das sich bald darauf trennen wird.
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