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Kommentar

Schnittwechsel: Was ist das nun mit Letterboxd?

Sophia Derda lobte in einem differenzierten Artikel jüngst Letterboxd als Plattform, die den Film feiert. Sebastian Seidler und Christian Neffe haben aber noch Redebedarf und sind sich uneins. Letterboxd — Fluch oder Segen?

Meinungen
Das Letterboxd-Logo
Das Letterboxd-Logo

Es stimmt ja irgendwie: Als Filmfan kommt man an Letterboxd nicht mehr vorbei. Die Plattform funktioniert wie ein Archiv der eigenen Sehbiografie und stellt definitiv die Filme ins Zentrum der sozialen Interaktionen: Ohne Film geht dort nichts. Aber ist das nun eine neue Art der Teilhabe oder nur eine Reaktion auf eine sich im Schwund befindende Kultur des Films? Beeinflusst die Plattform unsere Art, Filme zu schauen?

Algorithmus formt Auge. Oder: Das Leid mit Letterboxd
                                                                  von Sebastian Seidler

Ja, ich habe auch einen Account bei Letterboxd. Das darf an dieser Stelle nicht verheimlicht werden. Ein Freund hat mir vor einigen Jahren die Plattform empfohlen, und mit großem Enthusiasmus habe ich mich daran gemacht, alle von mir gesehenen Filme zu bewerten. Wobei der Maßstab ein rein subjektiver war, mit dem ich mich dennoch alsbald in die Sackgassen manövriert habe: Geht das eigentlich? Kann ich immerzu gegen Sterne- und Punktebewertungen argumentieren und dann selbst Filme in ein Schema pressen, das letztlich immer zu eng und abschließend ist? 

Als Filmkritiker oder Filmjournalist ist die Frage nach dem Wesen und Wandel der (Film)Kritik von größter Bedeutung für mich. Filmkritik ist nicht unveränderlich, folgt keiner reinen Form. Die Form selbst muss sich anpassen und kann nicht lediglich aus einem Schema bestehen: Einleitung, Inhaltszusammenfassung, Hauptteil und Schluss. Meine Utopie wäre eine Filmkritik, die gemäß der Urbedeutung an die Wurzel geht, sich aber eines zu einfachen Urteils entsagt. Allzu oft gerät die Frage, auf welche Weise ein Film überhaupt funktioniert und was für (Denk)Wege er öffnet, aus dem Blick. Es geht nur noch ums Urteil – Kritik als Strafgerichtshof, die Verurteilung als Ziel. Und damit sind wir schon am ersten Punkt meiner Kritik an Letterboxd: Die Plattform entwertet Filmkritik. 

Puh! Das klingt elitär, dessen bin ich mir bewusst. Soll es am Ende aber gar nicht – ich bitte um Geduld. So muss man in einem ersten Schritt eine Review-Kultur (nennen wir es mal so) von dem, was man Filmkritik nennt, unterscheiden: Eine Review hat die Freiheit, dass sie nicht unbedingt argumentieren muss und rein subjektiv das Empfinden wiedergeben kann. Eine Filmkritik – davon bin ich überzeugt – muss argumentieren, das eigene Empfinden in Argumente umwandeln und sich so gesehen ins Objektive neigen. Dabei geht es nicht um Wahrheit – die hat niemand auf dem Feld der Ästhetik gepachtet. Es geht um die Möglichkeit, sich sachlich (und gleichzeitig leidenschaftlich im Stil) mit Kino und Film auseinanderzusetzen. So gesehen ist es eine Arbeit an ästhetischen Kategorien, die immer gemeinsam erfolgen muss, denn ein einzelner Text macht noch keine Filmkritik; Texte müssen sich zueinander ins Verhältnis setzen. Filmkritik ist ein Diskurs.

Der Einwand ist nachvollziehbar: Bei Letterboxd geht es doch genau darum, dass man sich austauscht. Stimmt. Doch tauscht man Meinungen, die privaten Bewertungen und unterwirft sich einer Logik der schmissigen Formulierung, damit die eigene Review auch geliked wird. Es handelt sich eben immer noch um ein soziales Netzwerk, und soziale Netzwerke verdienen mit unseren Verbindungen und Verflechtungen ihr Geld. Die Vernetzung und die damit verbundene Feier des Films abzufeiern, ist mir viel zu unkritisch und oberflächlich. Die suggestiven Wirkungen der Form, der visuellen Aufbereitung und der sozialen Praxis, die eine Plattform anbietet, werden unterschlagen: Wenn ein Film wenige Sterne hat, manifestiert sich das, setzt sich das natürlich fest. Der Schwarm hat gerichtet, und der Schwarm kann sich nicht irren. Und so formt der Algorithmus unser Auge, arbeitet daran und bestimmt, wie wir Filme sehen und welche Filme letztlich funktionieren werden: Oh, welch‘ süße selbsterfüllende Prophezeiung. 

Dagegen halte ich die einzelnen Stimmen der Kritiker im Chor der Filmkritik, die aus ihrer singulären Position heraus ihre Haltungen in eine Form bringen müssen und aus der Gesamtheit ihrer Stile und Gedanken einen Diskurs entstehen lassen, der unendlich ist und frei – idealtypisch betrachtet. Die Kultur der Reviews schlägt nämlich schon durch: Kolleg_Innen werden dazu angehalten einen Film besser zu bewerten, weil auf IMDB oder Letterboxd das Stimmungsbild ein anderes sei. Damit ist man endgültig bei der Servicekritik angekommen. Dass Kritik auch etwas Politisches hat, sich an den Tiefenbewegungen einer gesellschaftlichen Entwicklung abarbeitet, spielt keine Rolle mehr. Hauptsache, ich kann meinen oder einen Geschmack in die Welt hinausposaunen. Dazu sei noch angemerkt, dass mir nicht jeder Film, über den ich positiv schreibe, auch privat gefällt. Es geht in der Filmkritik darum, einen Film zu durchdringen und sein Funktionieren nachzuzeichnen. Man muss nicht immer einer Meinung sein, mit der Erzählung. Die Figuren können einem emotional fremd bleiben oder das Thema bizar erscheinen. The Northman ist so ein Fall: In seiner Form ein konsequenter und wahrlich herausragender Film. Dabei kann ich mit dieser Sagenwelt gar nichts anfangen. Daraufg aber, kann ich keine Filmkritik stützen. Letterboxd aber will genau das. Ja, ich bewerte immer noch auf Letterboxd. Ich sollte womöglich damit aufhören. Aber ich war auch schon lange nicht mehr eingeloggt.

Auch Kino-Zeit ist bei Letterboxd vertreten.
Auch Kino-Zeit ist bei Letterboxd vertreten.

Die diverse Filterblase
                                                                  von Christian Neffe

Soziale Netzwerke und ich — wir haben ein Problem. Denn ich nutze diese Plattformen wenn überhaupt, dann nur selten so, wie sie mutmaßlich genutzt werden wollen/sollen. Für Twitter fehlt mir das Talent für „Hot Takes“, pointierte, meinungsstarke Gedanken, die ich in die Welt hinausbrüllen kann, weshalb ich dort eher als passiver Rezipient agiere. Für Instagram fehlt mir das Gespür (und auch der Wille) für Schnappschüsse sowie die nachträgliche Verfilterung bis hin zur (Über-)Perfektion. Und von TikTok will ich erst gar nicht anfangen. Aber Letterboxd? Da fühle ich mich pudelwohl.

Der Grund — abseits meiner Leidenschaft für Filme — ist simpel: Ich kann dort ganz für mich sein. Während Twitter, Insta, Facebook und Co. kategorisch nicht ohne Interaktion mit anderen Usern funktionieren, gibt es bei Letterboxd keinen Zwang oder auch nur Druck zur Vernetzung. Die allerdings birgt einiges an Mehrwert.

Denn zwar nutze ich — und da bin ich mit Sicherheit nicht der einzige — die Plattform in allererster Linie dafür, mein eigenes Filmtagebuch zu führen und Wertungen zu vergeben (oder auch nicht), und die damit entstehende Datengrundlage auch bisweilen als Rechercheausgangspunkt. Und das soziale Netz, das ich mir dort nebenher spanne, ist ein selbst kuratiertes. Birgt das die Gefahr, sich eine Filterblase aufzubauen? Natürlich. Doch realistischerweise sind Geschmäcker, Les- und Interpretationsarten sowie Präferenzen bei der Bewertung von Filmen derart divers, dass schon ein kleiner Blick über den Tellerrand — und der ist bei Letterboxd problemlos möglich — ganz neue Perspektiven eröffnen kann. Haben nur zehn der Leute, denen ich dort folge, einen Film gesehen, gibt es mindestens fünf verschiedene Meinungen dazu. Bei der klassischen Kritik hingegen steht eine Rezension geradezu monolithisch für sich. Gegenrede findet sich vielleicht in der Kommentarspalte, ansonsten muss ich aktiv nach anderen Perspektiven suchen, und selbst das ist nicht immer von Erfolg gekrönt. Bei Letterboxd fallen sie mir in den Schoß.

Letterboxd kann, will und — so behaupte ich — wird die klassische Kritik nicht ersetzen. Letztere liefert Kontext, eine tiefe analytische Auseinandersetzung, während Letterboxd mir eine Vielzahl von Stimmen offeriert. Qualität der Auseinandersetzung hier, Quantität dort. Beides ist für die Stärkung des Diskurses essenziell.

Tatsächlich sind es gerade jene Meinungen in meinem Follower-Kreis, die meiner widersprechen, die mich am ehesten interessieren. Nach dem Loggen eines gesehenen Filmes fällt der Blick unmittelbar auf die Wertungen in meinem Umkreis, die (möglichst stark) von meiner abweichen: ein anderes Urteil und andere Argumente, mit denen ich mich plötzlich auseinandersetzen muss. Ja, auf Letterboxd schaffe ich mir eine Blase, aber eine, die mir ganz automatisch ein diverses Meinungsbild vermittelt und mich zugleich auf neue, potenziell spannende und auch abseitige Filme aufmerksam macht. Denn das geschieht nicht wie bei Netflix, das mir das vorsetzt, was mir laut Algorithmus gefallen „müsste“, stattdessen kommen die (wenn auch nicht indirekten) Empfehlungen von Menschen, deren Meinungen ich schätze — auch und gerade wenn sie gern mal weit, weit von meiner entfernt sind. Filterblasen können auch durchaus divers sein.

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