zurück zur Übersicht
Kolumnen

Meine Welt für alle - Auf der Suche nach YouTube-Nachrichten

Ein Beitrag von Lars Dolkemeyer

Wenn in der Welt etwas geschieht, erfahre ich davon in der Regel zuerst auf Twitter, kurz danach auf Facebook und – wenn ich dazu komme – irgendwann durch eine gedruckte Zeitung.

Meinungen
YouTube

Wobei gedruckt gar nicht stimmt: Auch die wird mittlerweile digital gelesen. Dass Print-Medien und Fernsehen ihren Weg ins Internet gefunden haben oder ihn manchmal noch stolpernd-tastend erkunden, ist keine neue Erkenntnis. Wenn in der Timeline eine Nachrichtenmeldung von Interesse erscheint, dann ist es völlig natürlich, sich die Bilder dazu schnell bei YouTube anzusehen.

Deshalb drängt sich die Frage auf: Was heißt es eigentlich, dann von Nachrichtenbildern zu sprechen? Wer macht diese Bilder und wie werden sie verbreitet? Was bedeutet es, wenn das digitale Versprechen unbegrenzter video-künstlerischer Möglichkeiten sich mit dem Anspruch und der Ästhetik politischer Berichterstattung vermischt?

Erst einmal ist der Wechsel zu YouTube meist gar nicht nötig – die Plattform ist derart allgegenwärtig, dass der eingebundene YouTube-Player völlig normal wird. Ebenso ist das Öffnen der YouTube-App auf Smartphone, Tablet oder Fernseher kein besonderes Ereignis – wo früher mit der Käsestulle auf dem Schoß im Wohnzimmer die Tagesschau geschaut wurde, kann heute jederzeit durch die Informationsfluten gescrollt und genau das ausgewählt werden, was mich persönlich interessiert, die Bilder dazu gibt es in Sekunden. Der Begriff der Filterblase bedarf fast keiner Erklärung: Ich sehe die Welt durch die Augen meiner Timeline, durch die Augen dessen, was sich in meiner Timeline bündelt, für mich gebündelt wird.

Versuche ich, diesen Automatismus des Nachrichtenkonsums zu durchbrechen, indem ich ganz bewusst auf YouTube suche, außerhalb meiner wohlig-weichen Filterblase, dann fällt auf: Das Nachrichten-Fernsehen wird vielleicht nicht mehr auf dem Röhrenapparat geschaut und zwingt seine Zuschauer nicht mehr in ein lineares Programm – aber es existiert erstaunlich unberührt fort. Wenngleich YouTube selbst eine übersichtliche Darstellung erschwert, so wird doch in den meistgeschauten Nachrichten-Kanälen der Plattform deutlich: Die klassischen Sender sind nach wie vor dominant vertreten. Neben Kanälen wie Barcroft TV und Tomo News, die durch Ekel und Sex bestechen und wohl kaum als Nachrichten-Kanälen zu gelten haben, befinden sich in den Top 10 der Kategorie nur die Young Turks als originärer YouTube-Kanal auf dem ersten Platz. Der Rest wird von Kanälen wie ABC, CNN oder auch Russia Today besetzt. Interessant ist die Gesamt-Übersicht aller YouTube-Kanäle, unabhängig von ihrer (vorgeblichen) Kategorie: Young Turks als stärkster News-Kanal liegt dort auf Platz 140 nach Aufrufen – beziehungsweise auf Platz 614 nach Abonnentenzahl.

Aber heißt das einfach, dass auf YouTube nicht so viele Nachrichten geschaut werden? Dass zwar das Geschehen in der Welt, nicht erst seit der letzten US-Wahl, in den Timelines sozialer Netzwerke kommentiert wird, aber dazu keine Bilder aufgerufen werden? Die Suche nach Kanälen, die sich der Aufbereitung von Nachrichten widmen, ist geleitet von der Idee einer Autorität des klassischen Fernsehsenders. Gerade die Freiheit aber, nicht bloß konsumieren zu können, sondern immer die Möglichkeit zu haben, sich selbst als Produzent zu präsentieren, zersetzt das Feld der Etablierung einer kleinen Gruppe von Kanälen. Jeder kann jederzeit seine Meinung in einen Facebook-Kommentar schreien – und jeder kann ebenso individuell Bilder der Welt erzeugen und präsentieren.

Der Blick auf eine aktuelle Suchanfrage verrät erheblich mehr als die Liste der meistgeschauten Inhalte – und lässt die Tiefe eines Abgrundes sichtbar werden, der in der eigenen Filterblase allenfalls am Rande erscheint, als Störung des gut selektierten Flusses. Um eine Idee davon zu bekommen, wie Bilder von Ereignissen auf YouTube zirkulieren, suche ich also einfach mal – ohne mich in meinen Account einzuloggen und so doch nur gefilterte Ergebnisse zu erhalten – nach einem vieldiskutierten Keyword der letzten Wochen: Sean Spicer.

Die erste Ergebnisseite ist standardmäßig nach einer von YouTube bestimmten „Relevanz“ sortiert. Wie so oft sind Informationen zur Berechnung dieser Relevanz spärlich, sie scheint sich jedoch aus der Aufrufzahl, der vom Nutzer geschauten Länge des Videos und der Aktualität und Anzahl von Kommentaren und Verlinkungen zusammenzusetzen. Der Vergleich zur Sortierung der Videos nach Zuschauerzahl zeigt, dass die beiden Ergebnislisten wenig deckungsgleich sind. Die Sortierung nach Relevanz gibt jedoch wieder, was YouTube für besonders sehenswert befindet, und zeigt die Ergebnisse, wie sie den meisten Nutzern begegnen dürften – denn kaum jemand ändert regelmäßig bei seiner YouTube-Suche bewusst die Kriterien der Sortierung.

Die Beispiel-Ergebnisse zeigen nun: Von den 20 Videos auf der ersten Seite sind fünf Satire oder Comedy – Melissa McCarthy, Trevor Noah, zwei Mal Stephen Colbert, Jimmy Kimmel – drei Videos sind Mitschnitte von Pressekonferenzen und die restlichen zwölf Videos zeigen ein ganz neues Verhältnis zur Herstellung von Nachrichtenbildern: Es handelt sich um kurze Zusammenschnitte und Ausschnitte, die unter polemischen Titeln auf der Plattform neu hochgeladen und neu kontextualisiert werden. Die Videos haben Titel wie: „Sean Spicer RIPS Media“, „Sean Spicer Crushes Liberal Reporter“, „Sean Spicer Slams NBC Reporter“, „Sean Spicer Shuts Up Disrespectful Liberal“, „Sean Spicer Blasts Disrespectful Reporter“, „Sean Spicer laughs at Liberal Reporter“ – und so fort.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

(„Sean Spicer RIPS Media“-Video)

Diese Videos sind in der Zahl und Dichte ihrer Verbreitung eine neue Erscheinung, die bislang in Diskussionen über Öffentlichkeit im Internet und Meinungsäußerung in sozialen Netzwerken kaum beachtet wurde. Dabei sind sie das konsequente Gegenstück zum hasserfüllten Facebook-Kommentar, liefern dazu die scheinbare Evidenz des bewegten Bildes: Ich wusste immer schon, dass die freie Presse lügt und Sean Spicer gibt mir recht – wenn ich nur den richtigen Ausschnitt unter dem richtigen Titel präsentiere. Andere Suchanfragen, auch aus anderen Ländern und Zusammenhängen, bestätigen diesen Eindruck, wenn auch nicht immer mit einer derart deutlichen Rhetorik. Diese orientiert sich an dem Kampf gegen Fakten, Recherche und unabhängigen Journalismus, der spätestens seit Amtsantritt von Donald Trump eine der drängendsten politischen Diskussionen aufgeworfen hat. Die Ausschnitte bedienen sich an Bildern, die aus klassischen Nachrichten bekannt sind – und besetzen sie mit Begriffen der körperlichen, aggressiven Auseinandersetzung, die eine scheinbar andere Wahrheit hinter den Bildern offenlegen sollen.

Die Gefahr dieser Hate News liegt in ihrem Beitrag zur Störung der bereits angegriffenen Glaubwürdigkeit von Nachrichten, die nun mit ihren eigenen Bildern attackiert werden. Gerade die beiläufige, integrierte Verbreitung durch YouTube bettet die Videos in einen Informationsfluss, der seine subjektive Konstruiertheit immer effektiver verbirgt. Journalismus, der sich um Neutralität und faire Berichterstattung bemüht, hat mit ausführlichen Auseinandersetzungen keine Chance gegen das schnell neu montierte und damit umso stärker manipulierte Bild desselben Ereignisses. Umso dringender ist es, immer wieder zu reflektieren, woher die Bilder kommen, die unseren Blick auf die Welt strukturieren. Wie andere Netzwerke bietet auch YouTube die nahezu unbegrenzte Möglichkeit individueller Äußerung – und wie andere Netzwerke ist damit auch YouTube zu einem Kampfplatz geworden, auf dem ein Journalismus der Fakten, Recherchen und Wahrheit unter beständigen Attacken steht. Die kleinen Hass-Clips zeigen einmal mehr, wie wichtig die Auseinandersetzung mit den Phänomenen ist, die unter den Begriffen der „alternativen Fakten“ oder „Fake News“ die politische Diskussionskultur durchziehen. Hier wird deutlich, wie „alternative Fakten“ funktionieren – wie Bilder, die sich als „Fakten“ geben, durch ihren Kontext „alternativ“ werden, sich ihrem Ursprung widersetzen und ein manipuliertes wie manipulatives Bild der Welt hervorbringen. Es ist beängstigend, diesen Appell machen zu müssen, es ist traurig, diesen Kampf auszutragen, aber es ist wichtiger denn je, die Instrumente der Manipulation zu verstehen, die durch Plattformen wie YouTube zur Verfügung stehen und sich schleichend in den Alltag integrieren. Es ist wichtiger denn je, sich zu fragen, wie Wirklichkeit hergestellt wird, von wem, mit welchen Mitteln und mit welchem Ziel.

Meinungen