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Interviews

"Ich habe den Film nicht gemacht, um einen Oscar zu gewinnen" - Im Gespräch mit Barry Jenkins

Ein Beitrag von Anna Wollner

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Barry Jenkins

Es sind diese letzten vier Minuten auf der Bühne des Dolby Theatres in Los Angeles, die am Abend des 26. Februars 2017 in die Geschichte eingehen werden. Nicht nur die Verwechslung des Umschlages und das Chaos um den besten Film zwischen La La Land und Moonlight, sondern vor allem auch die Tatsache, dass Barry Jenkins‘ poetisches Schwulendrama der erste afroamerikanische Gegenwartsfilm ist, der als bester Film ausgezeichnet wurde. Anna Wollner hat Barry Jenkins vor einigen Wochen in Berlin zum Interview getroffen.

Mister Jenkins, seit der Weltpremiere Ihres Films beim Telluride Filmfestival und spätestens seit dem Toronto International Filmfestival ist „Moonlight“ in aller Munde und war bei vielen schon vorher der Oscargewinner der Herzen. Wie überrascht waren Sie vom Erfolg?

Sehr. Wir sind an einem Punkt, von dem wir nie zu träumen gewagt hätten. Denn bei all den Nominierungen und Auszeichnungen dürfen wir nie vergessen, dass Moonlight kein konventioneller Film ist. Ganz im Gegenteil sogar. Die Struktur ist unkonventionell, der visuelle Stil ist unkonventionell, vor allem wenn man einen sozialrealistischen Film erwartet. Das trägt eigentlich alles dazu bei, dass Moonlight gar nicht so universell funktionieren dürfte wie er es tut.

Welches Gefühl ist beim ersten Lesen des Theaterstückes von Tarell Alvin McCraney hängen geblieben?

Es war nicht unbedingt ein Gefühl. Vielmehr eine Figur. Die der Mutter, im Film gespielt von Naomi Harris. So eine Geschichte habe ich noch nie erzählt bekommen. Obwohl die Geschichte von Tarells Mutter der meiner ganz ähnlich ist. Alles fühlt sich so echt an, die Figuren, die Orte, das Viertel, die Nachbarschaft, die Erlebnisse. Und doch hat vorher noch nie jemand den Mut gehabt, davon zu erzählen.

Wie schwer war es, die Struktur der Geschichte auch im Film beizubehalten?

Wir hatten das große Glück, ein angemessenes Budget für den Film zusammenzubekommen. Dadurch war es einfacher, die Produzenten von der Struktur zu überzeugen. Denn das Risiko war es wert. Plan B und A24 haben uns nie vorgeschrieben, wie wir unsere Geschichte zu erzählen haben. Wir durften einfach machen. Uns war von vorneherein klar, dass Moonlight kein leiser Film wird. Der Film als solches ja. Aber der Einschlag beim Publikum, der wird laut sein. Das wussten wir. Weil Moonlight einfach anders ist.

Hätten Sie erwartet, dass er umstrittener ist?

Oh ja, das hatte ich. Aber der Film kommt einfach zur rechten Zeit. Vor zehn Jahren wäre er vermutlich aus den Kinos diskutiert worden. Es ist natürlich kein Zufall, dass er zwei, drei Jahre nach dem Supreme Court Urteil zur gleichgeschlechtlichen Ehe kommt, das sie als konstitutionelles Recht verankert. Wir erzwingen gewissermaßen eine Identifikation.

Wie meinen Sie das?

Ganz einfach: wenn jemand sich nicht wohl dabei fühlt, ein schwules händchenhaltendes Pärchen auf der Straße zu sehen, sollte er damit besser langsam mal klarkommen. Denn es wird immer mehr händchenhaltende Männer auf den Straßen geben. Das muss langsam bei den Leuten ankommen, sie müssen ihre Mauern in den Köpfen einreißen und offener werden. Dabei helfen unsere Figuren im Film.


(Bild aus Moonlight; Copyright: DCM Film Distribution)

Ihr Film strahlt eine unglaubliche Zärtlichkeit aus. Obwohl Sie Ihre Figuren in rauen, harten Momenten zeigen. Wie sind Sie diese Gegensätzlichkeit angegangen?

Der Verdienst liegt nicht bei mir, sondern bei Tarell Alvin McCraney, denn diese Gegensätze sind schon im Theaterstück. Meine Mutter und ich haben harte Zeiten durchgemacht. Aber trotzdem bin ich ihr gegenüber nicht verbittert. Ich weiß, dass sie ein hartes Leben hatte. Deswegen muss jede Hommage an sie auch zärtlich sein. Oft sind Figuren wie Drogendealer oder Junkie-Mütter reine Stereotype, weil sie außerhalb des eigenen Kulturkreises am Reißbrett entstanden sind. Die Phantasie eines weißen Drehbuchautors. Bei uns sind die Figuren aber aus sich selbst heraus entstanden, aus Tarells Erfahrungen.

Können Sie ein Beispiel geben?

Ein Freund von mir sagt immer: „Ein schwarzer Drogendealer ist nur ein schwarzer Drogendealer. Er ist kein Vater, kein Sohn, kein Cousin, kein Onkel.“ Aber da wo ich herkomme, kennen wir diese Leute. Sie sind nicht nur die Summe ihres Handelns. Nur weil du mit Drogen dealst, bist du nicht nur ein Drogendealer. Du bist immer noch ein Mensch. Der eben mit Drogen dealt. Das wollte ich zeigen.

Alle drei Schauspieler, Ashton Sanders, Alex R. Hibbert und Trevante Rhodes haben die gleiche Sensibilität, das gleiche Leuchten in den Augen. Haben Sie mit ihnen zusammen geprobt?

Nein, sie durften sich noch nicht einmal treffen. Wir haben chronologisch gedreht. Erst „Little“, dann „Chiron“, dann „Black“. Ein Hauptthema ist ja die ständige Neuerfindung und Weiterentwicklung der Figur. Als Antwort auf die Erwartungshaltung von Männlichkeit in der Gesellschaft. Ich habe schon beim Casting Wert darauf gelegt, Schauspieler mit unterschiedlicher Physis zu finden. Der Zuschauer soll die Entwicklung nachvollziehen können. Wenn Trevante als Black das erste Mal auf der Leinwand auftaucht, soll man wirklich zweimal hingucken müssen. Er hat viel zu viel trainiert. Die Zärtlichkeit und Verletzbarkeit, die er als Kind noch hatte, sind weg. Er hat es sich selbst mit Absicht genommen. Weil die drei sich nicht getroffen haben, konnte ich dafür sorgen, dass es wirklich drei unterschiedliche Personen sind. Die gleiche Figur, aber eine andere Person.

Sehen Sie „Moonlight“ auch als Antidote zum Klischee von Männlichkeit, wie sie normalerweise inszeniert wird?

Mir ist die Erwartungshaltung des Publikums natürlich klar. Eine Figur wie Black sehen wir normalerweise nur im HipHop, in Musikvideos oder eben in einer sehr stereotypen Darstellung in einem Gangsterfilm. Genau damit wollte ich spielen. Jeder hat sofort ein festgefertigtes Bild vor Augen, wenn er jemanden wie Black sieht. Das ging mir genauso. Als Trevante beim Casting zur Tür reinkam, habe ich ihn sofort verurteilt. Der kann nie im Leben Black spielen, dafür ist er nicht sensibel genug und schon gar nicht in der Lage, die Verletzbarkeit der Figur zu porträtieren. Aber dann hat er vorgespielt und mich vom Gegenteil überzeugt. Und da war mir klar: Wenn das Publikum sich genauso auf ihn einlässt wie ich gerade, dann funktioniert der Film.

Hoffen Sie, dass sich junge schwarze Schwule durch den Film leichter outen können?

Ich weiß nicht, ob es wirklich einfacher werden kann. Es gibt so wenig Orte, an denen junge schwule Schwarze sich repräsentiert fühlen. Der Film bietet ihnen diesen Schutzraum. Wie eine Oase in der Wüste. Mir hat jemand ein Video zugeschickt. Eine Mutter und ihr Sohn. Ihr Sohn macht ein Facebook-Live-Video über sein Coming Out. Aber seine Mutter wusste es schon längst. Eine Mutter weiß sowas immer. Ich hoffe einfach, dass die Leute aus meinem Film mitnehmen, dass Jungs wie Chiron nicht anders sind als andere.


(Bild aus Moonlight; Copyright: DCM Film Distribution)

Warum sieht es dennoch so aus, dass Homosexualität in der schwarzen Community weniger normal erscheint als woanders?

Das würde ich so gar nicht sagen. Es gibt diese Szene im Film, in der die Kinder Fußball spielen. Wir waren damals sehr arm und wenn wir uns keinen Ball leisten konnten, haben wir einfach Papier zusammengeknüllt und das als Ballersatz genommen. Wir haben das Spiel „Throw Up Tackle“ genannt. Wir haben den Ball hochgeworfen, wer ihn zuerst berührt hat, wurde von den anderen angegriffen. Eigentlich wie beim Rugby. Als wir die Szene gedreht haben, waren ein paar Weiße im Filmteam. Vorzeigekonservative aus dem Mittleren Westen. Sie fragten, was die Jungs für ein Spiel spielen, ich habe „Throw Up Tackle“ gesagt und ihnen die Regeln erklärt. Einer meinte dann ganz trocken: „Wir haben das als Kinder auch gespielt. Aber bei uns hieß es „Smear the Queer“„. Ich habe das Spiel mein Leben lang gespielt und es nie in einen sexuellen Kontext gesetzt. Jetzt aber geht es um Macht. Du versuchst, immer den Ball auf das schwächste Kind zu werfen, denn es macht Spaß, die Schwachen anzugreifen. Mit dieser sexuellen Note hat es einen ganz anderen Einschlag. Es geht darum, den unmännlichsten Gegner zu dominieren und zu entmannen.

Aber dennoch haben es schwarze Homosexuelle schwerer als weiße Homosexuelle in der eigenen Community akzeptiert zu werden?

Dafür muss man tief in die afroamerikanische Geschichte eintauchen. Wir wurden als Sklaven nach Amerika gebracht. Als wir uns unsere Freiheit erkämpft haben, war es für die schwarzen Männer wichtig, ihre Männlichkeit zurückzubekommen. Jetzt wo wir frei sind, dürfen wir keine Schwäche mehr zeigen. Denn sonst ist die Gefahr zu groß, eines Tages nicht mehr frei zu sein. Bei der Frage nach Männlichkeit geht es für schwarze Männer also oft um Leben und Tod. Die Gemeinschaft musste vor Eindringlingen beschützt werden. Dieses Erbe ist fest in unserem Wertekanon verankert. Jedes Zeichen von Schwäche war eine Einladung zurück in die Zeit von Sklaverei und Knechtschaft.

Wie wichtig ist ein Oscargewinn für Sie und die schwarze Community?

Für die Community ist das vielleicht sogar noch wichtiger als für mich. Tarell und ich sind genauso groß geworden wie Chiron. Man sieht den Film und der Junge im Film gewinnt keinen Golden Globe, gewinnt keinen Oscar. Aber hier bin ich. Der Junge aus dem Film hat einen Golden Globe gewonnen und einen Oscar. Das hat eine Strahlkraft für die Leute, die in einer ähnlichen Situation sind. Ich sehe die Preise als eine Art Symbol. Ich habe den Film nicht gemacht, um einen Oscar zu gewinnen. Denn dann hätte ich ihn ganz anders erzählt. Mit mehr Tränen, einer weniger aggressiven Naomi Harris und am Ende würden Black und Kevin Händchen halten und in den Sonnenuntergang reiten. Aber das ist nicht der Film, den ich machen wollte. Tarell und ich haben viel darüber gesprochen. Er ist der Leiter des Drehbuchprogramms in Yale. Ich bin ein oscarprämierter Filmemacher. Wir fragen uns oft: Warum sind wir hier und warum ist unsere Figur dort. In den ersten beiden Kapiteln des Films sind wir gleich. Aber im dritten Kapitel geht es darum, was hätte sein können. Für mich und auch für Tarell. Die Überinszenierung von Männlichkeit, die Möglichkeit, ein Verbrechen zu begehen, Zeit im Knast abzusitzen. Und doch sind wir hier. Die vielen Preise zeigen nur eine von vielen Möglichkeiten auf. Es hätte auch anders kommen können.


(Trailer zu Moonlight)

Was bedeutet Ihnen der Begriff „Black Experience“?

Ich bewundere Spike Lee. Vor 20, 25 Jahren hat Spike Lee die Last, für das afroamerikanische Kino zu stehen, ganz allein auf seinen Schultern getragen. Es gab zwar hin und wieder ein paar andere Filmemacher, aber Lee war der Konstanteste. Zum Glück gibt es heute viele verschiedene Regisseurinnen und Regisseure, die in einer Diaspora arbeiten. Keiner von uns muss mehr für alle anderen sprechen. Jeder bedient eine eigene Nische, repräsentiert sein eigenes Viertel, seine eigene Stadt und seine eigene Zeit. Zudem sind die Zeiten zum Glück andere.

Was hat sich verändert?

Hollywood, die ganze Filmindustrie wurde bis jetzt von weißen, heterosexuellen Männern dominiert. Um Zugang zu diesen Kreisen zu bekommen, musste man seine Stimme abgeben und so sprechen und agieren wie diese Männer wollten. Filmemachen ist heute aber für jeden zugänglich, damit ist die Macht auch besser erreichbar und besser verteilt. Plan B ist unsere Produktionsfirma, A24 hat uns finanziert, das sind zwar beides weiße Firmen, aber trotzdem wollten sie mir nicht vorschreiben, was ich zu erzählen habe. Ich kann mit Filmen ungefiltert meine Stimme erheben und werde gehört. Nicht nur ich, auch Tarell Alvin McCraney wird gehört, die schwarzen Schauspieler. Die ersten Sätze im Film sind: „Every Nigga is a Star“. Im ganzen Film sieht man nur schwarze Gesichter. Es ist die ungefilterte Beschreibung eines schwarzen Regisseurs. Es wird viel darüber diskutiert, ob Moonlight ein schwarzer und/oder ein schwuler Film sei. Meine Antwort darauf ist eindeutig: es ist ein sexuell mehrdeutiger Film. Aber definitiv ein schwarzer.

Sie haben „Moonlight“ auf eine bestimmte Art und Weise gefilmt um die Farben besser nutzen zu können. Können Sie das kurz erklären?

Seit Anbeginn der Filmgeschichte, seit über 130 Jahren wurden Filmkameras und Filmmaterial darauf geeicht, weiße Haut zu filmen. Denn die einzigen Leute, die sich Kodak-Kameras leisten konnten, waren Weiße. Bei einem Film wie The Birth of A Nation sehen Schwarze so grotesk aus. Die Kameras waren einfach nicht dafür gemacht, schwarze Haut zu filmen. Die technischen Möglichkeiten haben sich heute zum Glück geändert.

Was haben Sie gemacht?

Wir haben mit einer deutschen Kamera gedreht, der Arri Alexa und anamorphen Hawk-Objektiven, die in München hergestellt werden. Normalerweise werden die Schauspieler einfach ordentlich abgepudert, die Haut reflektiert das Licht nicht mehr. Aber schwarze Haut ist per se reflektierend. Und in Miami, unserem Drehort, schwitzt man ständig. Wir wollten also nicht ständig pudern müssen und haben deswegen die Alexa als Kamera genommen. Sie fängt das Schimmern der Haut ein, genauso aber auch die Schatten und die Farbnuancen der schwarzen Haut. Wir nahmen kein Puder, wir nahmen Öl. Wir wollten jeden zum Glänzen bringen. Die Lichter von Miami sollten sich auf den Gesichtern wiederspiegeln. Ich liebe die Szene im Auto, wenn der Goldzahn glänzt, die Haut einen leichten Gelbstich hat aber gleichzeitig auch diese Wärme. Es verschwindet nicht einfach im Schwarz.

„Moonlight“ ist ein Film über Identität und erforscht viele verschiedene Facetten, verweigert sich aber binär zu sein. Wie fühlt sich das im Kontext mit der Stimmung in Amerika an?

In Amerika ist der Film drei Wochen vor der Wahl ins Kino gekommen. Die Reaktionen des Publikums haben sich seitdem verändert. Vor allem nach der Wahl, nach der Vereidigung, im Post-Obama-Leben. Die Leute suchen nach etwas, das ihnen versichert, dass Amerika noch nicht verloren ist. Aber das ist für uns auch wieder komisch, denn wir haben den Film unter der Obama-Regierung gedreht. Alles, was jetzt wirkt wie die Antwort auf Trump, wurde unter Obama entwickelt, geschrieben und gedreht. In einer wesentlich freundlicheren und offeneren Atmosphäre. Ich weiß nicht genau, was das über den Kontext des Films aussagt. Aber ich bin froh, dass der Film im Hier und Jetzt existiert.

Würden Sie ihn jetzt, in der Ära Trump, anders erzählen?

Ja, denn wir Filmemacher sind jetzt wohl gezwungen, aggressiver zu erzählen, um gehört zu werden. Aber trotzdem oder vielmehr gerade deswegen ist es jetzt wichtig, unsere Stimme zu erheben. Nehmen wir als Beispiel mal Trumps allererste Pressekonferenz, in der es nur darum ging zu verteidigen, wie viele Leute zu seiner Vereidigung kamen. Was zur Hölle war das für ein Auftritt? Es war komisch, unehrlich und hinterlistig. Spätestens da haben wir gemerkt, dass wir unter Trump unsere Kapazitäten verdoppeln müssen, um die Wahrheit erzählen zu können. Denn die Gegenseite wird mit aller Kraft dagegen steuern. Gegen die Wahrheit und für alternative Fakten.

Wie sehen Sie der Ära Trump entgegen?

Ob es schwieriger wird Filme zu machen? Nein. Ganz im Gegenteil. Wir Filmemacher werden unsere Stimme erheben. Wir werden sehr viel zu sagen haben. Silence und Guardians of the Galaxy wurden mit der gleichen Kamera gedreht wie Moonlight. Unsere Waffe gegen Trump wird die Kamera sein. Und unsere Waffe ist das erste Mal auch für Minderheiten erschwinglich. Das Kino war bisher eine Kunstform für Privilegierte. Filmemachen war immer teuer. Aber das ist es nicht mehr. Deswegen kommt Mister Trump genau zur richtigen Zeit. Wenn er uns ans Bein pinkelt, pinkeln wir, alle Geschichtenerzähler Amerikas, zurück.

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