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Schwimmen lernen: Die Filme von Barry Jenkins

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

In manchen Kinobildern kann man ertrinken. Man lässt sich treiben vom Geschehen oder watet mit dem Regisseur ins tiefe Wasser hinaus, nur um festzustellen, dass man Nichtschwimmer ist. Dieses Gefühl vermittelt auch eine Szene aus Moonlight, dem zweiten Spielfilm des amerikanischen Regisseurs Barry Jenkins

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Moonlight
Szene aus "Moonlight"

Der Drogendealer Juan (Mahershala Ali) hat sich des jungen Außenseiters Chiron (in dieser Szene: Alex R. Hibbert) angenommen. Es gilt, zwei Dinge zugleich zu lernen: zum einen Schwimmen, zum anderen Vertrauen. Selbst die Bilder scheinen Angst vor dem Untergehen zu haben. Die Kamera schwimmt halb über, halb unter der Oberfläche, steigt immer wieder hinauf, als müsste sie nach Luft schnappen. Die Linse ist benetzt von einem Schleier aus Wassertropfen, das Bild schwankt mit dem Wellengang.

Es ist ein fast biblischer Moment, eine Art Taufe und Initiationsritual. In Interviews spricht Jenkins von „spiritual transference“, also einer Geistesübertragung. Der Drogendealer wird plötzlich eine Retterfigur und gemahnt seinen Jünger zum Vertrauen, wie im Vers von Jesus‘ Gang auf dem Wasser. Es ist also eine Szene von großer Symbolwirkung, die sich kaum wie eine simple Begegnung zweier Menschen anfühlt, sondern vielmehr wie der Ausdruck einer großen Idee.

Schon in seinen Ursprüngen war Barry Jenkins‘ Kino eines der überlebensgroßen Symbole. Gerade in Frühwerken musste alles und jeder auf Höheres verweisen. My Josephine von 2003, sein erster Kurzfilm, handelt von einem arabisch sprechenden Mann namens Aadid, der in einem Waschsalon arbeitet und dort kostenlos amerikanische Flaggen reinigt. Ein Szenario, das selbst ohne die Nachwehen der Anschläge vom 11. September 2001 von großem Bedeutungsüberschuss gewesen wäre.

Aadid sagt und denkt halblyrische Sätze, die ein wenig nach Poetry Slam klingen: „Wie kann etwas dreckig werden, das niemals den Boden berührt?“ heißt es dann etwa über das Sternenbanner, das sich als visuelles Motiv durch den Film zieht. Seine Kollegin Adela bezeichnet er, in Anlehnung an Napoleons Ehefrau, als seine Josephine, die Liebe seines Lebens. Dabei ist ihre Beziehung von einer spürbaren Distanz geprägt: Jenkins‘ Kamera trennt die zwei, eröffnet große Räume zwischen ihnen, ihre Blicke begegnen einander kaum. Wenn sie tanzen, dann verwandelt Unschärfe sie in Schemen. Tatsächlich rücken sie mehr und mehr auseinander, das letzte Bild des Films löst die Berührung des ersten.

Fast könnte man annehmen, was sie trennt, wäre die Zeichenwelt, die sie umgibt. Aadid und Adela sind zu beschäftigt damit, die traumatisierte Psyche eines Landes und seine innere Entfremdung zu verkörpern, um echte Menschen aus Fleisch und Blut mit eigenen inneren Regungen zu sein.

My Josephine
Filmstill aus My Josephine. Copyright: Barry Jenkins

 

Es ist dieser Zwiespalt, der sich durch das Schaffen von Barry Jenkins zieht: Seine Figuren sind auf der verzweifelten Suche nach einer eigenen Persönlichkeit, als würden sie erst dadurch zu Menschen. Doch ihre äußeren Umstände drängen sie immer wieder dazu, in gewaltigen Kino- und Sinnbildern aufzugehen, in denen sie bestimmte Ideale und Identitäten repräsentieren müssen.

Das ist umso interessanter, als dass für die Filme dasselbe gilt. Schon bevor man Moonlight mit Preisen auszeichnete, wurde die Begeisterung für den Film mancherorts als Ausdruck von Identitätspolitik gewertet. Als Gesinnungsapplaus. Gerade die Intersektionalität des Films provozierte Zynismus der Marke: schwarz + schwul? Oscar garantiert! Als Donald Trump nach der Verleihung behauptete, man sei dort zu sehr „auf die Politik fokussiert“ gewesen, bezog er sich gewiss auch auf den großen Überraschungssieger des Abends. Jenkins wird damit umzugehen wissen, erzählen seine Filme doch stets von diesem Gefühl des Festgelegtwerdens, von der Zuordnung gegen den eigenen Willen.

Selbst seine eigene Biographie lädt geradezu dazu ein, liest sie sich doch wie eine sehr klassische Aufstiegsgeschichte, ein amerikanischer Traum. „Mein Leben symbolisiert Hoffnung“, erklärt er. Der Filmemacher wuchs in Miami auf, der drittärmsten Stadt des Landes. Eine Gegend, die einladende Palmenstrände voll feiernder Touristen und verkommene Sozialbausiedlungen wie zur Provokation nebeneinanderstellt. Sein Vater starb, als er gerade einmal 12 Jahre alt war, Jenkins und seine Geschwister werden nicht von seinen ursprünglichen Eltern aufgezogen. Rettung aus diesem Umfeld ermöglicht der Sport: Nicht umsonst wird in einer der bemerkenswertesten Szenen aus Moonlight das chaotische Footballspiel einiger Kinder mithilfe eines Mozart-Stücks zu einem Moment der Transzendenz erhoben. Mit einem Sport-Stipendium sicherte sich Jenkins einen Platz an der Florida State University, der Wechsel in den Filmstudiengang war eine Impulsentscheidung. Es folgten weiter Kurzfilme, Arbeit für verschiedene Institutionen des amerikanischen Indie-Marktes wie das Sundance-Festival, Drehbücher für die HBO-Serie The Leftovers und ein Praktikum bei Talkshow-Moderatorin Oprah Winfrey.

Früh in seiner Karriere entwickelte Jenkins, gemeinsam mit seinem Freund, Kommilitonen und Stamm-Kameramann James Laxton, eine homogene Bildsprache. Schon My Josephine offenbart deutlich ihre großen Vorbilder: den Hong-Kong-Regisseur Wong Kar-Wai und dessen Director of Photography Christopher Doyle. Die Zeitraffer-Aufnahmen zu Beginn des Kurzfilms, in denen die Passanten an den statischen Protagonisten vorbeieilen, wirken wie direkte Zitate aus Chungking Express oder Fallen Angels. Fast epigonenhaft wirkt wie der entfesselte, spontane und unmittelbare Stil aufgegriffen wird, wenn die Kamera in My Josephine wie eine Waschmaschine rotiert, plötzlich in das blendende Licht einer Deckenlampe schwenkt oder sich in Chlorophyl vorsichtig um die mit sich selbst tanzende Protagonistin rotiert. Auch ein zentrales Thema seines berühmten Vorbilds übernimmt Jenkins: Einsamkeit und Isolation.

Chungking Express
Filmstills aus Chungking Express und My Josephine. Copyright: StudioCanal / Barry Jenkins

 

Gruppen entstehen selten, wenn überhaupt tauchen sie als überwältigende Menschen-Ornamente und urbane Choreographie auf. Das wird sichtbar in der Vereinsamung, die der titelgebende Little Brown Boy in Jenkins‘ Universitäts-Abschlussfilm durchlebt, nachdem er sich an einem Gewaltverbrechen mitschuldig macht. Oder in der Großstadtverlorenheit der jungen Latina Ana, die in Chlorophyl, von Liebeskummer geprägt, durch San Francisco treibt. Oder in Tall Enough, in dem die Welt außerhalb eines jungen Paares nach und nach verschwindet, bis nur noch zwei Gesichter existieren, abgeschnitten vom Rest der Welt.
Auch in Jenkins‘ Langfilmdebüt Medicine for Melancholy (eine afroamerikanische Mumblecore-Variante von Richard Linklaters Before-Filmen) kommen die einander Fremden im Mittelpunkt der Handlung selten zusammen. Selbst zu Beginn des Films – Micah (Wyatt Cenac) und Jo‘ (Tracey Heggins) haben gerade ein One-Night-Stand hinter sich – blockieren sie visuell einander und reißen Einstellungen dadurch an sich. Durch den Einsatz von Schärfentiefe lässt James Laxton die beiden kaum im selben Bildrahmen existieren.

Sie verbringen einen Tag und eine Nacht in San Francisco miteinander. Es verschlägt sie auf ein Konzert, aber auch zum Martin Luther King Memorial, ins Museum of the African Diaspora oder zu einem Treffen eines Mieterverbands, der sich für erschwingliche Wohnungen für Minderheiten einsetzt. Dabei vermitteln schon die Räume, die sie durchlaufen, wie stark ihre Umwelt sie definiert. Die Distanz zwischen ihnen entwächst wieder einmal der Notwendigkeit, für eine Idee zu stehen. Micah trägt seine Identität als schwarzer Mann offen nach außen und wirft Jo‘ vor, sich gesellschaftlich zu assimilieren — sie unterhält eine Beziehung zu einem reichen, weißen Galeristen. Jo‘ hält Micah für zu fixiert auf seine Hautfarbe und ist davon überzeugt, dass er sich viele Barrieren im Leben selbst schafft.

Medicine for Melancholy
Filmstill aus Medicine for Melancholy. Copyright: IFC Films

 

In Mother Night schreibt Autor Kurt Vonnegut: “We are what we pretend to be, so we must be careful about what we pretend to be.” Ein Sinnspruch der deutlich macht, wie viel Wahrheit im Rollenspiel liegen kann. In seinen Filmen erzählt Barry Jenkins von der Identitätssuche, aber auch davon, wie sie von anderen forciert wird. Wie oft sie scheitert, wenn sie zu einem Ende kommt. Wie eine empfundene Katharsis nur ein Zwischenschritt zur nächsten ist. „An einem bestimmten Punkt musst du für dich entscheiden, wer du sein willst“, lehrt Juan den kleinen Chiron. „Du bist mein“, ergreift seine Mutter Besitz. „Wer bist du, man?“, fragt ihn Liebhaber Kevin. Sie alle wollen helfen, aber spielen auch Rollen, die ihnen Menschen ohne klare Rolle kaum erträglich machen. Moonlight wirkt stereotyp, wenn Drogendealer, drogensüchtige Mütter und zweifelnde Jugendliche gezeigt werden, und aufdringlich, wenn sich alltägliche Momente in Sinnbilder verwandeln. Doch Jenkins reflektiert diese Muster, versucht sie aufzulösen durch stures Draufhalten – oft nähern sich Menschen der Kamera und werden dadurch nicht sichtbarer, sondern verlieren die Konturen.

Barry Jenkins versucht, seine Filme in der Schwebe zu halten. Sie sollen genau auf Höhe der Wasseroberfläche treiben, zwischen Luft und Wasser, mal ab- und mal auftauchen. Seine Helden sollen zugleich etwas verkörpern und einfach Menschen sein. Das gelingt nicht immer, manches wirkt holzschnittartig, geht unter, hinabgezogen von Symbolen. Doch die starren Muster werden vor allem gezeigt, damit man mit ihnen brechen kann. Wer schwimmen lernen will, darf das Wasser nicht scheuen.

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