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Nicht nur Kirschblüten

Ein Beitrag von Maria Wiesner

Wegen Sion Sonos Himizu wollte Maria Wiesner nach Japan. Doch es wurde eine Reise, die an einen ganz anderen Film erinnerte.

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Himizu von Sion Sono
Himizu von Sion Sono

Der Grund nach Japan zu reisen war Sion Sono. Im Herbst 2011 lief sein Film Himizu im Wettbewerb der Filmfestspiele von Venedig. Knapp fünf Monate zuvor hatte ein Tsunami und das darauffolgende Erdbeben das Gebiet um Fukushima verwüstet und zu einem Unfall im Atomkraftwerk der Stadt geführt. Die Welt diskutierte über die Sicherheit von Atomkraftwerken, die Bilder der verwüsteten Stadt waren noch präsent, als das Filmfestival begann, doch niemand rechnete damit, dass der japanische Beitrag die Katastrophe auch nur annähernd behandeln könnte. Noch dazu, wo es sich doch um eine Adaptation des gleichnamigen Mangas von Minoru Furuya aus den Jahren 2001 und 2002 handelte. Doch Sion Sono tat genau das.

Der Film beginnt mit den Bildern der Katastrophe und einem Jungen, der durch die Trümmer wandert und eine Pistole findet. Auf der Tonspur ist dazu das gewalttätige Knacken der Geigerzähler zu hören. Dann setzt der Junge die Pistole an die Schläfe. Und in dem Tempo geht es weiter. 

Sion Sonos Film ringt um die Zukunft Japans. Er zeigt ein Land, in dem die Eltern ihre Kinder umbringen wollen – mit selbstgefertigten roten Galgen, weil sie sich ihr Leben anders vorgestellt hatten, oder wegen der für das Ableben des Sohnes veranschlagten Versicherungssumme, mit der sie sich dann weiter in die Besinnungslosigkeit trinken könnten. Und er zeigt die Kinder, denen diese Bezeichnung gar nicht mehr gerecht wird, müssen sie doch täglich Entscheidungen von weitaus größerer Tragweite treffen als die Erwachsenen. Dieses Ringen um die Selbstbestimmung der eigenen Zukunft trotz der widrigen Umstände, in denen sie aufwachsen, tragen der 15 Jahre alte Sumida (Shōta Sometani) und seine Schulkameradin Shazawa (Fumi Nikaidō) aus – beide wurden in Venedig mit dem Marcello-Mastroianni-Preis für ihr Können ausgezeichnet. 

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Was diesen Film beim Wiedersehen noch immer herausragend erscheinen lässt, ist Sonos Blick für Risse in der Gesellschaft. Da ist der japanische Nazi- und Hitlerfan, da sind die Kleinkriminellen und da ist die steigende Anzahl von Messerattacken, ausgeführt von verzweifelten jungen Männern, die Amok laufen. Mittendrin sind die beiden Jugendlichen, die auf dem Grat zwischen Aufgeben und Weitermachen balancieren. Und zwischendrin immer wieder die Bilder aus der Tsunami-Wüste, die das Ringen von Sumida und Shazawa zum Ringen um die Zukunft Japans machen. Klingt alles nicht sonderlich einladend? Nach diesem Film stand fest: Ich muss unbedingt in das Land, das solche Künstler hervorbringt. Die Gelegenheit ergab sich einige Jahre später, als ein Freund abends aufgeregt anrief und sagte: Es gibt günstige Flugtickets nach Tokio!

 

Ankunft in Japan — ein anderer Film 

Nun fordert es Tokio beim ersten Besuch geradezu heraus, dass sich beim Anblick der gläsernen hohen Fassaden mit Neonschrift die Bilder aus zahllosen Filmen übereinanderlegen. So als hätte man diese Stadt schon lange im Traum gekannt und betrete sie nun zum ersten Mal. Hatte Blade Runner nicht genau diese düsterglitzernden Hochhausschluchten vor Augen? Die Straßen zwischen ihnen aber sind geordneter als das Gewirr der Telefon- und Stromkabel an den Füßen der Hochhäuser in Bangkok, sie sind in ihrer Eleganz und Struktur futuristischer als die altehrwürdigen hohen Bauten Manhattans und in Europa gibt es sowieso keine Stadt, die auch nur ansatzweise mithalten kann. 

Wir landeten kurz nach Mitternacht am Haneda-Flughafen, nahmen einen Bus bis zur Shinjuku-Station und schleppten unser Gepäck durch die schwüle Nacht in Richtung des Apartments. Der Airbnb-Gastgeber hatte einen PDF-Guide geschickt, den auch David Lynch hätte schreiben können: „Gehen Sie durch diese dunkle Seitenstraße zu dieser Tür (an der Stelle war ein Foto einer blauen Tür eingefügt) hinein, durch den Gang und durch diese Tür (Foto einer braunen Tür) dahinter liegt diese Tür (Foto einer weißen Tür) und dahinter liegt ihr Schlüssel in einer Box.“ Irgendwie erwarteten wir, dass im dunklen Gang auch gleich noch das Monster aus Mulholland Drive um die Ecke blickte. Nach drei Türen fanden wir die Box. Sie war grau und hatte eine Palme auf dem Deckel, darunter stand „Hawaii — Happiness is no destination“. Es klang wie eine Drohung.

Da Himizu in Fukushima spielte und wir keine Zeit hatten – und zu feige waren –, um den langen Weg auf uns zu nehmen, war unsere Reiseroute Tokio-Kyoto und es sollte ein ganz anderer Film sein, der mich später in vielen Details an sie erinnerte. Your Name hatte 2016 Premiere und zählt heute mit einem Einspielergebnis von 358 Millionen Dollar zu den erfolgreichsten japanischen Anime-Filmen aller Zeiten. Das Mädchen Mitsuha und der Junge Taki tauschen darin regelmäßig ihre Körper, sodass das Mädchen plötzlich in Tokio erwacht und einen Kellnerjob hat und der Junge in einer ländlichen Stadt Tempelrituale lernen muss – von der Überforderung, plötzlich das Geschlecht gewechselt zu haben und mit der völlig neuen Wahrnehmung von und durch ihre Umwelt klarzukommen, mal ganz abgesehen. 

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Warum ausgerechnet Your Name der Film dieser Reise war? Weil er beide Welten zeigt, die in Japan parallel existieren, und über die man sich beim ersten Besuch zwangsläufig den Kopf zerbricht: Wie können Tradition und Fortschritt so Hand in Hand gehen? Was ist das für ein Land, in dem Jugendliche unterschiedlichster Subkulturen durch schicke In-Viertel schlendern und keine 500 Meter weiter führen Priester alte Rituale in Tempeln aus? Und bei all der Fremdheit, mit der Japan überwältigt, helfen doch gerade diese Filme, uns zu zeigen, dass wir Formen wie Höflichkeit oder Entschuldigungen vielleicht anders ausdrücken, dass die Menschen jedoch alle gleich sind, mit den gleichen Emotionen und den gleichen Problemen. Seien das die Herausforderungen, entgegen aller äußeren Gewalt eine Zukunft zu erträumen, die die beiden Jugendlichen in Himizu zu meistern haben, oder das Abenteuer von Mitsuha und Taki, deren Körpertausch schnell das kleinste Problem wird, mit dem die beiden zu kämpfen haben. Denn obendrein fliegt hier ein Komet auf eine Stadt zu – und es geht um Liebe, die über verschlungene Zeit- und Raumebenen bestehen muss. (Noch so ein Grund, Japan zu lieben, wo sonst würde man leichthin einen Film produzieren, der auf 107 Minuten so viele emotionale Achterbahn-Kurven nimmt und sie dabei mit so viel intellektuellem Anspruch verbindet?) 

 

Tokio — Was Mitsuha tun würde

Als Mitsuha feststellt, dass sie immer wieder für einen Tag mit dem Jungen Taki den Körper tauscht, ist sie zunächst schockiert. Da Taki jedoch in Tokio und sie in der, wie sie findet, langweiligen Kleinstadt Itomori lebt, beginnt sie schon bald das Großstadtleben zu genießen. Ein großer Missstand für Mitsuha ist, dass es in Itomori keine Cafés gibt. Nur einen Automaten mit Dosenkaffee, der neben der Bushaltestellenbank stand, bezeichnen ihre Freunde ironisch als „das Café“. Und wenn man dort saß, konnte man nicht viel erleben. Also zog es sie in Takis Körper mit dessen Freunden in Cafés. Besser gesagt, in die Kuchenabteilung – und wenn man einmal durch die Delikatessenabteilungen der Kaufhäuser im Shopping-Viertel Ginza gestolpert ist, kann man ihr Glück nachvollziehen. 

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Japan hat hier die Science-Fiction-Visionen seiner Animes längst hinter sich gelassen: Wer aus Versehen im 11. Stock des Schreibwarenhändlers „Itoya“ aus dem Fahrstuhl steigt, sieht sich großen Glasfenstern gegenüber, hinter denen Salat und Gemüse in langreihigen Regalen gezüchtet wird; die ganze Etage ist ein geschlossenes Gewächszimmer, um das Restaurant im Stockwerk darüber zu versorgen. Im Foodcourt eines großen Warenhauses hingegen importiert man, was man nicht selbst besser hinbekommt: italienischen Mozzarella, griechischen Honig und französische Macarons. Daneben liegt, was man doch selbst besser kann: kleine japanische Melonen für umgerechnet 40 Euro das Stück („Wichtig an ihnen sei“, so erklärt der Verkäufer, „dass ihr Stiel ein T formt, das zeugt davon, dass der Bauer sich um jede einzelne Melone gekümmert hat.“) Hinter den wohlbehüteten Melonen stolpern wir in die freundlichen Arme einer Verkäuferin von „Gouter du Roi“, die uns Kostproben entgegenstreckt. Es handelt sich hierbei um eine Delikatesse, für die Baguette aus Frankreich importiert werde, dass man dann nach eigenem Rezept zubereitet, erklärt die lächelnde Dame. In Scheiben geschnitten und mit Butter und Zucker gebacken, erinnert es nur entfernt an das, was man in Deutschland als „Armer Ritter“ zubereitet. Was diese Frau uns hinhält, ist zart-süß und knackt-luftig. Als hätten japanische Bäcker das „Arme Ritter“-Rezept in ein vollendetes Gleichgewicht gebracht. Um Feiertage, sagt die Frau, gebe es Wartelisten, denn man sei wochenlang ausverkauft. 

 

Kyoto — was Taki tun muss

Natürlich ist Mitsuha nicht nur mit Kuchenessen beschäftigt. Sie übernimmt in Takis Körper dessen Kellnerschicht und beginnt der Vorgesetzten des schüchternen Jungen eine neue Seite zu zeigen. Taki hingegen schafft es, Mitsuha in der Schule populärer zu machen. Beide nutzen den Körper des anderen, um neue Erfahrungen zu machen, die andere Person durch ihre Stärken weiter voranzubringen. Um zu wissen, was die oder der andere am Tag zuvor angestellt hat, hinterlassen sie Nachrichten in ihren Handys, auf ihren Notizblöcken und manchmal auch auf der Haut. 

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Was Taki in Mitsuhas Körper lernt, sind die Riten ihrer Großmutter. Und es ist dieses mystische Wissen, dass Taki/Mitsuha am Ende gegen die nahende Katastrophe helfen kann. (Doch wir wollen an dieser Stelle nichts spoilern, sondern vielmehr eine Szene herausnehmen, die zeigt, was Your Name besonders gut kann.) Die Großmutter zieht Mitsuha und ihre kleine Schwester bei sich auf und führt im Tempel der Stadt die Rituale aus. In einer Szene bringen Mitsuha und ihre Schwester während einer Zeremonie vor dem Schrein den Kuchikamizake dar – einen speziellen Sake, den Mitsuha durch Kauen des Reises fermentiert hat. Ihre Schulkameraden kommen zufällig am Tempel vorbei und sehen sie dort im Kimono und in Sandalen unter beschwörenden Bewegungen tanzen. Sie kichern; die Ernsthaftigkeit, mit der Mitsuha das alte Ritual ausführt, befremdet sie und über nichts spottet man in der Pubertät lieber. Es sind diese kleinen Szenen, das subtile Einfügen solcher Informationen, die nicht explizit auserzählt werden müssen, aber das Bild eines komplexen Charakters ausmalen und wiedergeben, die Your Name zu einem herausragend guten Film machen. 

Itomori ist eine Fantasie-Stadt, die leider im echten Japan nicht existiert. Um das traditionelle Japan mit seinen Schreinen und Tempeln zu besuchen, gibt es aber keine bessere Stadt als Kyoto. 2000 religiöse Orte kann man dort besuchen. Man kann aber auch den Ursprüngen des Mangas auf die Spur kommen. Rechts des Kamo-Flusses zwischen Ebisu-Schrein und dem Kennin-ji-Tempel wohnt Mamoru Ichimura und er hat für sein „kleinstes Ukiyoe-Museum der Welt“ das beste Eingangsschild der Welt angebracht: 

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Ichimura ist einer der letzten Ukiyoe-Künstler Japans. Zur Hochzeit der Holzschnitttechnik zum Beginn des 19. Jahrhunderts fertigte Katsushika Hokusai seine „36 Ansichten des Berges Fuji“ (1829-1833). In diesem Zyklus entstand auch „Die große Welle von Kanagawa“, deren Abbild noch heute täglich gebraucht wird: Sie ist die Vorlage für das Wellen-Symbol der Emojis weltweit. Es ist umstritten, wie alt die Kunst des Mangas in Japan ist (diese Frage wäre noch einmal ein eigenes Essay wert). Hokusai war es aber, der den Begriff Manga für seine Skizzen benutzte, in denen er Momentaufnahmen der japanischen Gesellschaft während der späten Edo-Zeit festhielt.

Die Kunst der farbigen Holzschnitte erforderte nicht einen Künstler, sondern drei, so erklärt es uns Mamoru Ichimura, nachdem wir durch einen schummrigen Hofeingang, an dessen Wänden Drucke in zarten Pastellfarben hingen, in sein Haus gelangten. „Bis ein Holzschnitt-Bild fertig war, brauchte es denjenigen, der sich die Motive ausdachte und ihre Vorlage aufmalte oder zeichnete, einen Schnitzer, der nach der Vorlage mehrere Holztafeln fertigte, jede für eine Farbschicht des Bildes, sowie den Drucker, der diese Tafeln per Hand passgenau übereinander legte und die Farben so in der richten Reihenfolge auftrug“, erklärt Ichimura und demonstriert anhand verschiedener Drucke, wie so ein Bild mit Vorder- und Hintergründen entsteht. Die Holzschnittkunst beeinflusste in Europa die Impressionisten und Jugendstil-Künstler. 

Was heute unter dem Begriff Manga zu verstehen ist, bildet die Vorlage für Filme wie Himizu. Zu Your Name gibt es zwar einen Roman – kurz vor dem Filmstart veröffentlicht –, jedoch keine Manga-Grundlage. Eine Gemeinsamkeit haben beide Werke aber doch: die rote Schleife, die Taki und Mitsuha verbindet, findet sich auch in der Schuluniform von Shazawa wieder. Das fiel erst beim Wiederanschauen der Filme nach der Reise auf. Japan steckt eben voller Überraschungen.

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