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Maurice Pialat - Der Widerspenstige

Ein Beitrag von Maria Wiesner

LaCinetek bereitet Maurice Pialat eine digitale Retrospektive. Ein guter Anlass, die Filme des französischen Regisseurs wiederzuentdecken, der 1987 Cannes gewann und dort einen Skandal auslöste.

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Maurice Pialat in "Die Sonne Satans"
Maurice Pialat in "Die Sonne Satans"

Wenn man wissen will, wie Filmemacher ihre Position als Künstler begreifen, kann es helfen, sich anzusehen, was sie über andere Künstler dachten. So findet man zum Beispiel einen Schlüssel, um den französischen Regisseur Maurice Pialat zu verstehen, in seinem Film über den Maler Vincent van Gogh. Im gleichnamigen Biopic aus dem Jahr 1990 folgt Pialat dem Künstler durch die letzten Monate seines Lebens. Sein Van Gogh (den Jacques Dutronc mit nervöser Überspanntheit gibt) quält sich mit der Kunst. Auf die Frage eines Modells, ob er keine Lust habe zu malen, bestätigt er genau das: „Nein, ich habe keine Lust zu malen.“ Nur um dann doch die Pinsel zur Hand zu nehmen und mit dem dicken Farbauftrag zu beginnen. Als er fertig ist, sagt die junge Frau, die für sein Bild am Klavier posierte, kokett: „Sie fragen gar nicht nach meiner Meinung.“ — „Die ist mir egal“, gibt der Maler zurück. Kunst ist hier nicht romantisch verklärt als Verwirklichung innerster Wünsche, hier küsst keine Muse den Künstler, nein, die Kunst quält ihn. Sie muss gemacht werden, um die Welt einzuordnen und nicht verrückt zu werden. Mit Lob und Verständnis der Mitmenschen kann man dabei nicht rechnen.

Kein Film Pialats steht exemplarischer für die Beziehung des Regisseurs zum eignen Werk als dieser. Auch Pialat fühlte sich selten vom Publikum verstanden, war es auch selten, wie das Filmfestival in Cannes 1987 zeigte. Pialat war mit Die Sonne Satans an die Côte d’Azur gereist, einer Verfilmung des gleichnamigen Romans von Georges Bernanos über einen jungen katholischen Priester und sein Ringen um den wahren Glauben. Der Film ist von schroffer Schönheit, kein Bild dem Zufall überlassen, was man manchmal erst beim zweiten Anschauen merkt. Wenn Gérard Depardieu, der selten so intensiv spielte wie bei Pialat, sich im Glaubenszweifel selbst geißelt, ist die Kamera so ausgerichtet, dass durchs Fensterglas ein spitzer Kirchturm in den Bildaufbau ragt, dem Sünder missbilligend über die Schulter schaut.

 

„Ich bin ganz zufrieden mit den Protesten“

Die Erzählung springt wenig später schon fast ins Fabelhafte, wenn Depardieus Priester des Nachts auf einer Wanderung dem Teufel begegnet und eine Mörderin zu retten versucht. Für das zeitgenössische Publikum war die Herausforderung zu groß, schon bei der Premiere gab es Pfiffe (für Cannes nichts Ungewöhnliches). Als dann am Abend der Preisverleihung der damalige Jury-Präsident Yves Montand Pialats Namen als Gewinner der Goldenen Palme verlas, ertönten auch im Saal erste Pfiffe (für Cannes durchaus ungewöhnlich). Catherine Deneuve musste für ihre kurze Vorrede bei der Trophäenübergabe die Stimme gegen das Johlen im Saal erheben, um den künstlerischen Mut des Regisseurs zu loben. Pialat blickte mit einer Mischung aus Stolz und Trotz auf die Pfeifenden, hob eine Faust in die Luft und sagte: „Ich bin ganz zufrieden mit den Protesten, die mir hier entgegenschlagen. Und wenn Ihr mich nicht mögt, kann ich Euch nur sagen: Ich mag Euch auch nicht.“ Die Nacht ging als einer der großen Skandale in die Geschichte des Filmfestivals ein. 

 

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Der trotzige Stolz, den er auf der Bühne in Cannes zeigte, zog sich auch durch sein Schaffen. Seine Ästhetik und auch seine Themen hätten ihn durchaus ins Umfeld der Nouvelle Vague führen können, doch zu deren Vertretern zählte er sich selbst nie, ja belächelte sie eher als Haufen verwöhnter Jungs. Die Regeln, was man im Kino zeigen durfte, brach er lieber auf der Inhaltsebene, statt sich in Schnittspielereien zu versuchen.

Die Inhalte holte er aus eigenen Erfahrungen und Beobachtungen. Der Blick seines Debütfilms Nackte Kindheit (1967) ist davon geprägt. Der 1925 in der Auvergne geborene Pialat schaut hier auf die Situation von Heimkindern, zeigt Pflegeeltern aus der Arbeiterklasse, die zwischen Liebe und Überforderung schwanken, und nimmt jene Heranwachsenden in den Blick, die schon in der Kindheit so viel Leid erfahren mussten, dass sie sich mit den Regeln der Gesellschaft und des familiären Zusammenlebens schwertun. Dass es sich nicht um kleine Engel auf Abwegen handelt, macht etwa eine Szene deutlich, in der eine Katze einen endlosen Treppenschacht hinuntergeworfen wird. Pialats Film heuchelt kein Mitleid und kennt keinen Sozialkitsch, das brachte ihm häufig die Zuordnung als Filmemacher des „Realismus“ ein. 

 

Zehn Filme und eine Serie

Das Thema der Kindheit bei den Pflegeeltern trieb den Regisseur weiter um. 1970 entstand die siebenteilige Fernsehserie Das Haus im Wald, die von drei Kindern erzählt, die im Jahr 1917 bei einem Wildhüter und seiner Familie unterkommen. Zunächst ist der Krieg weit weg, doch die Unschuld der Kindheit ist bereits an ihn verloren. Pialat bezeichnete die Serie später als das Beste, das er geschaffen habe.

Sein Werk umfasst neben der Serie zehn Spielfilme, was zum einen daran liegt, dass er bereits 44 war, als er sein Debüt Nackte Kindheit drehte. Zum anderen ist es seinem Perfektionismus zuzuschreiben. Die Kunst quälte den Künstler. Manchmal unterbrach er den Dreh, wenn er mit Szenen nicht zufrieden war. Er galt als schwierig, die großen Darsteller Frankreichs arbeiteten dennoch gern mit ihm zusammen. Allen voran Gérard Depardieu, den er fast schon als Alter Ego in vier Filmen besetzte. 

Bereits 1979 gab er ihm die Hauptrolle in Der Loulou. Da darf er Isabelle Huppert verführen, die aus ihrem bürgerlichen Leben ausbrechen will und sich nach Gefühlen sehnt, nur um dann feststellen zu müssen, dass auch die Liebe zum jungen Draufgänger ohne festen Job Kompromisse erfordert und Beziehungen nicht von allein gut laufen. So kühl wie Pialat in Nackte Kindheit die Institution der Kinderfürsorge sezierte, blickte er hier auf die Institution der Ehe. Was er sieht, stimmt nicht optimistisch, man darf bei ihm keine Happy Ends erwarten. Ähnlich ergeht es dem Paar in Wir werden nicht zusammen alt (1972), das seine Beziehung durch eine Reise in die Camargue zu retten sucht. Und auch die junge Suzanne (Sandrine Bonnaire) verheddert sich in Auf das, was wir lieben (1983) in den Fallstricken, die die Liebe spannt, sobald Sex ins Spiel kommt — der Film machte die 16 Jahre alte Sandrine Bonnaire zum Nachwuchsstar des französischen Kinos, Pialat arbeitete mit ihr noch einmal im Cannes-Gewinner Die Sonne Satans zusammen, in dem sie die verzweifelte Mörderin spielt. 

 

„Er war ein Pessimist, ein Widerspenstiger“

Was Pialats Filme verbindet, ob sie von Ehe, Sozialamt oder Kirche erzählen, ist der unnachgiebige Blick des Regisseurs auf den Kampf des Individuums gegen gesellschaftliche Zwänge und Traditionen. Den richtete er 1984 auf die Pariser Polizei und schickte den jungen Depardieu in Der Bulle von Paris als Ermittler ins Drogenmilieu. In lässiger schwarzer Lederjacke streift er durch Pariser Rotlichtviertel, schummerige Spielhallen und enge Polizeireviere. Immer auf der Suche nach Dealern und schönen Frauen. Die Schönste ist natürlich Sophie Marceau, die als Hauptverdächtige alle Parteien, von der Polizei bis zum maghrebinischen Verbrecher-Clan, zu überlisten sucht. Die Tragik dieser Liebe zwischen Ermittler und Femme Fatale, die keine Chance hat, erinnert weniger an die Noir-Filme der Vierzigerjahre, sie nimmt vielmehr den kühlen Ton vorweg, den Michael Mann im gleichen Jahr mit Miami Vice als neuen Standard etablieren sollte. 

 

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Und da Gérard Depardieu fast schon als Pialats partner in crime gelten kann, verwundert es auch nicht, dass er im letzten Film, den der Regisseur 1995 drehte, die Hauptrolle spielt. In Mein Vater, das Kind heißt Gérard deshalb der Einfachheit halber auch im Film gleich Gérard. Pialat kehrt hier zurück zu den Schwierigkeiten der Familienstrukturen, denn Gérard kämpft als Vater des kleinen Antoine um die Beziehung zu seinem Sohn, nachdem die Mutter einen neuen Liebhaber gefunden hat. Gleichzeitig wird sein eigener Vater schwer krank — eine Konfrontation mit der Endlichkeit des Lebens. Die Beschäftigung mit dem Tod sollte sein letzter Film bleiben. Danach, so sagte er, habe er in seiner Kunst nichts mehr gefunden, worüber sich zu erzählen lohnte. 

Der Filmkritiker Michael Althen schrieb 2003 in seinem Nachruf für die FAZ: „Pialat war ein Mann voller Widersprüche, vor Selbstbewusstsein strotzend und dann wieder von Selbstzweifeln zerfressen, von einem heiligen Zorn und doch von einer großen Zärtlichkeit dem Leben gegenüber.“ Noch schöner hat sein Werk Isabelle Huppert zusammengefasst, die zum Tod des 77-Jährigen sagte: „Er war ein Pessimist, ein Widerspenstiger, der aus seiner Verzweiflung etwas zu machen verstand: Filme. Er hat die Wirklichkeit weder transformiert noch sublimiert: Er hat sie beim Namen genannt.“

Anmerkung der Redaktion: Die Retrospektive ist für zwei Wochen (als Stream) zu sehen — und zwar vom 3.3. bis 17.3.22 zum Preis von 5 €. Bei den dort gezeigten Filmen handelt es sich um die restaurierten Fassungen der Werke. 

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