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Frauen wählen: Hexenfiguren als Widerstand

Ein Beitrag von Beatrice Behn

Seit 100 Jahren dürfen Frauen in Deutschland wählen. Zu diesem Anlass wählen wir ein ganzes Jahr Frauen und Frauenfiguren, die uns beeindrucken, die sich aus den Zwängen (filmischer) Geschlechtergrenzen befreien. Wie die neuen Hexenfiguren, die uns wunderbar widerständige Frauen bescheren.

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Neue Hexenfiguren: Tonya, Thelma und Thomassin
Neue Hexenfiguren: Tonya, Thelma und Thomassin

Ein Mann und seine Tochter stapfen durch einen schneebedeckten Wald in Norwegen. Sie gehen jagen. Das Kind ist vielleicht gerade einmal 6 Jahre alt. Es trägt einen roten Mantel. Die blonden Haare ragen unter der rosafarbenen Mütze hervor. Sein Vater, ganz dunkel gekleidet, trägt eine Waffe mit sich. Auf der Lichtung ein Reh. Die Waffe im Anschlag. Doch der Vater zielt nicht auf das Reh, sondern auf sein Kind. Er will es töten. Doch er kann nicht. Seine Tochter, die derweil auf das Tier geschaut hat, dreht sich zu ihm. Ihr Blick ist wissend. Sie hat keine Angst.

Es ist die Anfangsszene aus Joachim Triers Thelma, die uns sofort eine Figur bereitstellt, die irritiert. Etwas stimmt nicht mit diesem Mädchen. Der Film spürt es — und der Vater auch. Er versucht, seine Tochter zu vernichten, doch er scheitert. Und auch das Mädchen weiß um seine Besonderheit. Das Mädchen ist eine Hexe.

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Frauen sind Hexen

Die Geschichte von Hexenfiguren ist lang und komplex. In jedem Kulturkreis gibt es Hexen, im europäischen Raum traten sie schon in der griechischen Mythologie mit Kirke (Zirze) und Medea in Erscheinung. Hexen, das sind Figuren, die die mächtige Seite der Frau verkörpern. Dabei ist es vor allem die Interpretation dieser Macht, die aus weisen Frauen, Priesterinnen, Heilerinnen und Hebammen über die Jahrhunderte böse, gefährliche, dunkle Frauen gemacht hat. Aus der Heilerin wurde die Unheilbringerin, die Quelle für Krankheit und Tod, die Schuld ist an allem Übel und die es durch Rituale und Sprüche herbeiführt, durch dunkle Mächte und die Verbindung mit dem Teufel selbst. Aus dem Aberglaube geboren und vor allem durch das Christentum genährt, wurde die Figur der Hexe schnell zum ultimativen Bösen, das es zu kontrollieren, zu bannen, zu vernichten galt. Und es wurde zu einem effektiven politischen Mittel, Machtansprüche durchzusetzen und Frauen zu kontrollieren oder mit dem Tode zu bestrafen. Vor allem jene, die aufbegehrten, die Talent bewiesen oder gar selbst Machtansprüche stellten. Wie beispielsweise Jeanne d’Arc.

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Historische Aufzeichnungen belegen, dass allein den europäischen Hexenverfolgungen ca. 9 Millionen Menschen zum Opfer fielen; 80 bis 90 Prozent davon waren Frauen. Inzwischen werden die Hexenverfolgungen als Taten angesehen, die eindeutig geschlechtsspezifisch waren. Frauen wurden verfolgt und verurteilt, weil sie eine Allianz aus Christentum und Patriarchat zum „Anderen“, zum Abjekt auserkoren hatte, dessen Essenz per Geschlecht nur schlecht sein konnte. So schrieben Heinrich Kramer und Jacob Sprenger 1486 in ihrem Buch Hexenhammer, das Jahrhunderte lang als Grundlage zur Verurteilung von Frauen diente:

„Was sonst ist die Frau, als ein Widersacher der Freundschaft, eine unentrinnbare Strafe, ein notwendiges Übel der Natur, gemalt in schönen Farben! […] ein natürlicher Grund ist, dass Frauen fleischlicher sind als Männer. […] Alle Hexerei kommt aus fleischlicher Lust, die in Frauen unersättlich ist …“

Zwei Variationen der Hexe wurden alsbald zum gängigen Klischee. Die alte, hässliche, gehässige und böse Hexe und die junge, attraktive Hexe, die mit ihren Reizen Männer in den Bann zieht. Beide haben etwas gemeinsam: Sie haben Kräfte. Und sie sind das Gegenteil zur Mutter-Figur und Hausfrau. Sie wollen keine Kinder, sie wollen keine wohlerzogenen, untergeordneten Frauen sein.

Vor allem die Sexualität ist es, die der Hexe, zumindest solange sie noch jung ist oder sich als solches ausgeben kann, als Mittel der Macht vorgeworfen wird. Sie bezirzt (!) Männer, sie nutzt ihre Schönheit, um sie in ihren Bann zu ziehen. Ihre Fleischeslust steht im Gegensatz zur christlichen Enthaltsamkeit und dient noch dazu nicht einmal der Reproduktion.

 

Thomassin: Sexualität als Hexerei in The VVitch — A New-England Folktale

Diese Idee, dass die freie Unbeherrschbarkeit von Sexualität der Ursprung des hexischen Übels ist, spielen schon seit Anbeginn des Kinos zahlreiche Filme immer wieder durch. In Robert Eggers The VVitch — A New-England Folktale (Deutsch: The Witch) ist es das sexuelle Erwachen der jungen Thomassin, die am Rande eines tief-dunklen Waldes mit ihrer Familie wohnt, über die der Vater mit orthodox-christlicher Wut wacht. Auch sie verliert ein Baby, ein Hinweis auf ihre Wurzeln im klassischen Hexenmythos.

"The Witch"
© Universal

Sie könnte eine weitere Hexenfigur sein, die begehrt und berauscht und letztendlich zur Strecke gebracht wird, wäre da nicht eine langsam aufbegehrende Kanon-Änderung. Kaum merklich hat The VVitch eine Änderung im Kino eingeleitet, die die Hexe nicht mehr den üblichen Routinen unterwirft, sondern sie neu definiert. Thomassins Kraft liegt in ihrer natürlichen Lebendigkeit und  in ihrem Frausein, ohne sich dafür zu entschuldigen, zu krümmen, zu unterwerfen. Sie hinterfragt das Gebot des Vaters im doppelten Sinn, denn nicht nur der eigene Vater, sondern auch der Gottvater steht hier zur Debatte. Die Angst vor der Hexe, das Wachsen des Glaubens an ihre Kräfte zeigt der Film als inneren psychologischen Prozess des Mannes im Haus. Nicht gewohnt, Widerstand zu haben oder hinterfragt zu werden, abstrahiert er die eigene Tochter zum Ursprung allen Übels. Doch dieses Mal gewinnt nicht die hausgemachte Inquisition. Im Gegenteil. The VVitch zeigt, dass eigentlich erst die Angst des Mannes die Frau zur Hexe macht.

„Die Hexe, egal of sie sich in der Imagination oder physisch manifestiert, ernährt sich von deinen Ängsten, deiner Verzweiflung, deiner Dunkelheit. Dies macht sie stärker. Das Übernatürliche und das Psychologische sind in ihr stets verwoben (Robert Eggers)“

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Wo Thomassin das psychologische Entstehen der Hexenfigur zeigt und ihr somit eine ganz andere metaphorische Zuordnung zuteilwerden lässt, spinnt Joachim Triers Thelma den neuen Faden weiter. Auch Thelma lebt in einer christlich orthodoxen Familie. Auch sie leidet unter dem Vater, der sie verwaltet, und einem Gott, der sie richtet.

 

Thelma: Genrewiderstand & Neuerfindung

Thelma leistet Widerstand. Sie lässt sich nicht mehr von ihrem Vater zur Hexe machen, sondern sie weiß vielmehr um ihre Mächte und nimmt sie grundsätzlich an, auch wenn sie erst damit zurande kommen muss. Doch dieser Emanzipationsprozess wird auch genutzt, um nicht nur Widerstand zu leisten, sondern die engen Regeln der Hexenfigur ganz und gar zu sprengen — und den gesamten Regelkanon des Psycho-Horrors gleich dazu.

"Thelma"
© Koch Films / FilmAgentinnen

Im Gegensatz zu ihrer Seelenverwandten Carrie aus Brian de Palmas gleichnamigem Film erlaubt sich Triers Figur einige kleine Abweichungen, die sich als signifikant herausstellen werden. Obwohl Thelma und Carrie ähnlich abgeschieden aufgewachsen sind und die Enge der Familie ebenfalls Parallelen aufweist, zeigt Thelmas Weg in eine Zukunft. Und dies aus drei spezifischen Gründen: Zum einen vermag sie sich physisch aus dem Klammergriff zu befreien, indem sie in die Großstadt zieht, zum anderen ist es ihre „deviante“ Sexualität — Thelma ist lesbisch -, die ihr hier ebenfalls eine Alternative aufzeigt, ein Liebesleben außerhalb männlicher Gesetzmäßigkeiten, Kinder, Ehe und Haushalt als Institutionen der Kontrolle eingeschlossen.

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Am signifikantesten ist indes die dritte Abweichung: Thelma ist es als Figur erlaubt, ein dreidimensionaler, moralischer Mensch und keine Metapher für externalisierte Ängste zu sein. Als solcher trifft sie ethische Entscheidungen. Ihre Macht bedarf nicht des Missbrauchs und der Boshaftigkeit.

„Macht und Gewalt sind Gegensätze: wo die eine absolut herrscht, ist die andere nicht vorhanden (Hannah Arendt)“

Hexenmacht geht stets einher mit Bösartigkeit, mit Gewalt und Zwang und Tod. Doch Thelma, die ihre Mächte aus sich selbst schöpft, muss keine Gewalt anwenden. Nur einmal tut sie es, aus Notwehr. Das Ende des Films macht jedoch deutlich: Hier ändert sich die Hexenfigur gänzlich und nimmt sich ihrer selbst an, ohne Gewalt auch nur zu benötigen, ohne ihre Kräfte destruktiv einzusetzen. Sie kehrt zurück zum Ursprung des Hexenmythos — zur Heilerin, die ihrer Mutter die Chance auf ein neues Leben gibt, und als Frau, die liebt und ihr Leben lebt.

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Tonya: Ambivalenz als Widerstand

Nach  § 185 StGB ist es keine Beleidigung, eine Frau „Hexe“ zu nennen. Dieses Schimpfwort wird noch immer gern und oft genutzt, um Frauen zu diffamieren und sexistisch zu beleidigen — als alt, als hässlich, als bösartig. Immer wieder trifft man auf diese Bezeichnung. Julia Gillard wurde beim Wahlkampf in Australien von ihrem Gegner mit einer ganzen „Bitch-Witch“-Kampagne in Empfang, genommen, als Margaret Thatcher starb, sang (fast) ganz Großbritannien „Ding-dong, the witch is dead“ aus Der Zauberer von Oz.

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Auch als Hexe, genauer als „Eis-Hexe“, wurde Tonya Harding diffamiert. Die Eiskunstläuferin fiel 1994 in Ungnade, nachdem ihr Ex-Mann jemanden beauftragt hatte, Nancy Kerrigan, ihrer größten Gegnerin bei der Qualifikation zu den Olympischen Spielen, mit einer Eisenstange das Knie zu verletzen. Bis heute ist nicht geklärt, ob und wie viel Harding davon wusste. Ungeachtet der unklaren Umstände wurde sie danach monatelang durch die Medien gezerrt und regelrecht geschlachtet, ihre Karriere war beendet. Harding ist keine fiktive Figur, keine Film-Hexe. Ihr Eis-Hexen-Dasein ist metaphorisch und findet sich immer wieder. Frauen, die als Hexen bezeichnet werden, sind vor allem Frauen, die nicht ins Bild der „guten Frau“ passen. Es ist die Ambivalenz dieser Frauen, die sie in den Augen anderer zu Hexen macht. I, Tonya erzählt nun — in Hardings eigenen Worten — ihre Lebensgeschichte und zeigt genau, an welchen Stellen diese Ambivalenzen liegen.

"I, Tonya"
© DCM

Der Film verdeutlicht Hardings Aufwachsen in ärmlichen und vor allem brutalen Verhältnissen. Eine machtlose Mutter prügelt ihr Kind, gleichsam fördert sie es und verhilft ihr zu einer Karriere im Eiskunstlauf. Tonya, zerrissen zwischen diesen emotionalen Gegensätzen, wird zu einer ebenso ambivalenten Frau. Harding ist gleichsam Opfer und Täterin. Sie wird geprügelt, erst von der Mutter, dann von ihrem Mann, und prügelt ebenso. Ihr schlägt Hass entgegen und sie hasst zurück. Sie ist das Gegenteil eines perfekten Opfers, wie es beispielsweise Kerrigan in der Außenwahrnehmung ist. Hinzu kommt, dass Harding auch nicht als klassisch schön oder klassisch weiblich wahrgenommen wurde. Die burschikose Frau mit dem groben Geschmack und zu viel Schminke passt einfach nicht in das Bild einer „guten Frau“.

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Noch dazu ist sie ehrgeizig und macht Ansprüche geltend. Auf erste Plätze, auf gleichberechtigte Behandlung, auf Ruhm und Respekt. Und so zeigt sich an Hardings wunderbar widersprüchlicher Geschichte und Persönlichkeit, dass die Beschimpfung als Hexe ebenfalls überaus ambivalent ist. Denn ganz wie bei Thelma oder Thomassin nimmt auch Tonya diese Figur mit all ihren Eigenschaften und macht etwas Eigenes daraus. Sowohl die filmische Figur als auch ihr echtes Vorbild nutzen das Image der Eis-Hexe, um damit zu spielen, in den Widersprüchen Nischen zu finden, die sie füllen, bis sie zerbersten und die Idee der Hexe nicht mehr greift. Es ist eine ganz eigene Zurückgewinnung der Deutungshoheit, eine Emanzipation ob und über die Idee der bösen, kalten Hexe, die Harding hier vornimmt und sich damit von beiden Ketten befreit: von der der Idee einer „guten Frau“ bzw. eines „guten Opfers“, aber auch von der Idee einer Bösartigen, eiskalt Kalkulierenden. Sie ist beides und gleichsam nichts davon und am Ende nur eines: Ich, Tonya.

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