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Deutscher Film, Teil 1: Kann der deutsche Film gar nicht besser sein?

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„Der deutsche Film kann gar nicht besser sein.“ So lautete der doppeldeutige Titel des Werkes, das der Münchner Filmkritiker Joe Hembus 1961 verfasste und mit dem er den Neuen Deutschen Film einläutete. Im vergangenen Jahr widmete das Filmfest München dem 1985 verstorbenen Hembus eine Podiumsdiskussion mit Filmemachern dreier Filmemacher-Generationen, in der die Situation des deutschen Filmes über das vergangene halbe Jahrhundert hinweg beleuchtet wurde.

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(Filmfest München 2015: Filmmakers Live! Hommage Joe Hembus)

Angesichts des zeitlos erscheinenden Titels (und erstaunlich aktuellen Buches) stellt sich die Frage: Gilt Hembus’ Einschätzung noch heute? Wo steht der deutsche Film im Hier und Jetzt, was ist gut und woran krankt er? Und vor allem: Wie konnte es dazu kommen, dass das Image des deutschen Filmes so schlecht wurde?

Mit einer sechsteiligen Artikelserie von Harald Mühlbeyer und Urs Spörri leitet kino-zeit auf die mit Spannung erwartete Filmreihe „Neues Deutsches Kino“ beim diesjährigen Filmfest München über.

Für Joe Hembus war es eine „Lust, im Sommer 1981 in München mit dem Film zu leben.“ Das schreibt er in der Nachbetrachtung zu seinem unbedingt auch heute noch lesenswerten Buch Der deutsche Film kann gar nicht besser sein, mit dem er 1961 einen Markstein zur Erneuerung des deutschen Kinowesens setzte. 20 Jahre später ist für ihn ein Traum erfüllt. Ausgehend vom Filmmuseum beschreibt er die Freuden des Cineasten in München mit einem kleinen Spaziergang: In einem Schneideraum kann er Werner Herzog bei der Arbeit an Fitzcarraldo besuchen, Rainer Werner Fassbinders Lola läuft auf der Leinwand, Schlöndorff schreibt am Buch zu seinem Film Die Fälschung, auf der Leopoldstraße sitzen die Nachwuchskräfte, Klaus Lemke diskutiert in einer Stehkneipe, Heinz Badewitz schwärmt von den kommenden Hofer Filmtagen, in Schwabing gibt es eine Filmpremiere, auf der man endlos diskutieren, streiten und lästern kann. Ein herrliches Leben.

Ein Jahr später ist Rainer Werner Fassbinder tot. Und Helmut Kohl kommt an die Macht.

Fassbinder versus Kohl

Man kann das Jahr 1982 vereinfachend, aber mit großer Symbolkraft, als den Drehpunkt ansehen, an dem die Wippe aufgehängt ist: Es gibt ein Vorher und ein Nachher; es gibt ein Aufwärts und ein Abwärts.

Der deutsche Film, der in den 1950ern künstlerisch wie wirtschaftlich am Boden lag, konnte sich seit Mitte der 1960er Jahre kraftvoll erneuern. Neue Geschichten setzten sich durch, die neu erzählt wurden. Filme wurden gedreht, die in und von der Gesellschaft handelten. Und die Bandbreite war groß zwischen Kluge und Lemke, zwischen Nekes und Wenders; die Filmkultur blühte, der deutsche Film war in aller Munde, sowohl im Inland als auch im Ausland. Schlöndorffs Die Blechtrommel erhielt den ersten Oscar für einen deutschen Film überhaupt; deutsches Kino war wieder auf den großen Festivals der Welt zuhause.

Es gab verkopftes Kino, Thesenfilme, die von oben herab die Welt erklärten; es gab den ekstatischen Antirationalismus eines Herzog; es gab das raffinierte Gefühlskino eines Fassbinder; es gab unmittelbare Actionware, direktes Kino, vom Kopf über die Kamera auf die Leinwand von Lemke, Klick etc. Und man darf nicht vergessen, dass der Altfilm noch immer aktiv war – und dass Schulmädchen und Co. Millionen Zuschauer in die Kinos lockten. Es war für jeden etwas dabei am reichhaltigen Tisch des deutschen Films.

Geistig-moralische Wende

Helmut Kohl stand für eine „geistig-moralische Wende“ ein. Dies war zunächst vor allem wirtschaftspolitisch und strukturkonservativ gemeint – doch durchaus mit Auswirkungen auf den Filmbereich. Nicht nur, weil der WDR – ohne dessen Redaktion in den 1970er Jahren eine Menge von Neuen Deutschen Filmen nicht hätte realisiert werden können – als „Rotfunk“ verschrien und für die schwarze Regierung deshalb ein rotes Tuch war. Sondern auch, weil Kohl in vertrauter Zusammenarbeit mit Leo Kirch das Privatfernsehen einführte, grundsätzlich in marktwirtschaftlich-liberalökonomischem Sinn, aber eben auch mit durchaus schweren Konsequenzen für den Filmbereich bis heute.

„Am Anfang der Regierungszeit des dicken König Ubu“, so polemisiert Georg Seeßlen in seinem jüngst veröffentlichten Buch über Christoph Schlingensief, „stand ja die perfide Forderung nach einer ‚geistig-moralischen Wende’. Deutschland war in der Regierungszeit Helmut Kohls wirklich ‚unter Kohl’ (und ist es in gewisser Weise immer noch). Unter der Schreckensherrschaft eines jovialen Mannes, dessen Furchtbarkeit sich nicht zuletzt in der eigenen Familie abzeichnete.“ Bleierne Jahre: Hier konnte das gesellschaftskritische, progressive Kino des Neuen Deutschen Films nicht mehr punkten: „Die Verzweiflung der Opposition, der Kunst und der Jugend gegenüber der zähen Herrschaft dieses dicken Königs konnte keine lineare Form des Widerstands hervorbringen“, so Seeßlen weiter. „Der Heroismus der 1968er (wie, in der Kunst, zum Beispiel von Bewegungen wie dem Neuen Deutschen Film), erschien demgegenüber als lächerlich.“

Was die Kohl-Jahre hervorbrachten, waren RTL Plus und Sat.1 und die erfolgreichen Komödien, angefangen mit Doris Dörries Männer, fortgesetzt mit Sönke Wortmann in den 1990ern und in Person von Til Schweiger bis ins Heute hineinreichend: Filme über das Gegen- und Miteinander von Mann und Frau, in von der Realität weitgehend abgeschnittenen Filmräumen, als unterhaltsamer Geschlechterdiskurs vor allem ein Ausweichen vor der gesellschaftlichen Relevanz. Und: Diese Jahre festigten das System staatlicher Filmfinanzierung. Anfang der 1960er wurde sie schon bei Joe Hembus gefordert, um künstlerische Freiheit zu garantieren, in den 1970ern war sie bereits dem Vorwurf des publikumsfeindlichen „Gremienkinos“ ausgesetzt. Inzwischen hat die staatliche Filmfinanzierung zum finanzstarken System weitgehend risikofreien Filmemachens geführt, das die Konformität und das Mittelmaß begünstigt, weil die Einigung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner noch immer das einfachste Mittel ist, um nicht genug Druck zuzulassen, am System irgendetwas zu ändern.

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(Ausschnitt aus Männer von Doris Dörrie)

Blühende Landschaften

Überhaupt, warum etwas ändern? 1990 ist Deutschland im Weltmeisterschafts- und Wiedervereinigungstaumel. Kanzler Helmut Kohl verspricht blühende Landschaften und Kaiser Franz Beckenbauer glaubt, „dass die deutsche Mannschaft über Jahre hinaus nicht zu besiegen sein wird.“ Im gleichen Jahr werden in Deutschland die ersten Multiplexkinos eingeführt, im Oktober 1990 eröffnet UCI in Hürth den ersten jener Komplexe, die die Kinolandschaft hierzulande nachhaltig verändern sollten. Die Blockbusterwelle ergriff nun auch den deutschen Michel, getreu dem Motto: Was für Hollywood gut ist, kann in good old Europe nicht verkehrt sein. Die Filme sollten möglichst „groß“ werden, entstanden ist aus weitgehender Erfolglosigkeit (trotz zweier Auslandsoscars für Caroline Links Nirgendwo In Afrika und Donnersmarcks Das Leben Der Anderen) jedoch in den folgenden zweieinhalb Jahrzehnten ein deutscher Minderwertigkeitskomplex. Was soll man auch sagen über eine Zeit, die im Kino als Rückbesinnung zu erkennen ist auf etwas, das – wie eingangs erwähnt – „künstlerisch wie wirtschaftlich am Boden lag“. Werner Beinhart traf auf Otto, Bully, Schweiger und Schweighöfer, allesamt mit einem Millionenpublikum gesegnet. Aber nur im Inland, international wollte das niemand sehen. Deutscher Humor reist nicht wurde zur gehobenen Floskel.

Zwischen rotem Teppich und Sozialamt

Reisen durften hingegen immer wieder deutsche Filmtalente als Leiharbeiter Hollywoods. Im deutschen Kino erprobte Regisseure werden dafür geschätzt, aus wenig Geld möglichst viel herauszuholen, äußerte einmal (der Österreicher) Stefan Ruzowitzky, der nach seinem Oscar für Die Fälscher zuerst Cold Blood und derzeit Patient Zero auf amerikanischem Boden realisieren durfte und wohl deutsche Beispiele wie Robert Schwentke (Flightplan, R.E.D., Die Bestimmung 2 und 3) oder Christian Alvart (Fall 39, Pandorum – inzwischen zum Tatort zurückgekehrt) vor Augen hatte. Aus wenig viel machen: Sollte sich etwa erneut die bundesdeutsche Politik mit der Agenda 2010 auf das Filmgeschehen ausgewirkt haben? Nach 16 Jahren Kohl nun auch Schröder? Hartz IV ist bis heute in aller Munde, selbst gefeierte Filmemacher bewegen sich zwischen rotem Teppich und Sozialamt. Die Digitalisierung trug zu einer Umsonst-Kultur bei, die sich auch in Produktionsprozessen niederschlug. Wen wundert’s: Wer jahrelang vergeblich auf die Zusagen der Fördergremien und Fernsehsender für sein nächstes Filmprojekt wartet, der stürzt sich irgendwann selbstausbeutend und voller Verzweiflung auf ein No-Budget-Projekt. Hauptsache Drehen – Filmemachen als Ich-AG. Bestes Beispiel ist natürlich Axel Ranisch, der werbewirksam verkündete, dass sein auf Festivals gefeierter Durchbruch Dicke Mädchen gerade mal „517 Euro und ein paar Zerquetschte“ gekostet haben soll. Improvisiert, ohne Drehbuch. Keine Filmförderung wollte sich vorher auf derlei einlassen, nun dreht Ranisch sogar bereits des Deutschen Allerheiligstes: einen Tatort.

 

Der deutsche Film frisst seine Talente

„Vertraut uns Regisseuren!“ — Vor ihrer Berlinale-Premiere des einzigen originär deutschen Wettbewerbsbeitrags 24 Wochen rief Filmemacherin Anne Zohra Berrached enthusiastisch diese Forderung im Berlinale-Palast aus. Und in der Tat, offenbar hat die Fördergremien in den vergangenen Jahrzehnten der Mut verlassen. Zumindest aber das Vertrauen. Was waren das noch für Zeiten, als ein Wim Wenders beim Kuratorium junger deutscher Film Geld für sein neues Projekt beantragte und dabei anstelle eines Drehbuchs einfach Peter Handkes Roman Die Angst des Tormanns beim Elfmeter mitschickte. Versehen mit dem Zusatz: Das will ich verfilmen. Antwort: Förderung bewilligt. Times change. Wim Wenders bekam die Chancen, die gerade junge Filmemacher benötigen, um ihre Handschrift und einen Stil zu entwickeln . Er war ein Talent, dem man die nötige Zeit und die Mittel für immer wieder neue Filme gab. Heute verlassen pro Jahr über 100 hervorragend ausgebildete Jungfilmer die deutschen Filmhochschulen. 226 deutsche Kinofilme wurden 2015 erstaufgeführt. Das sind mehr als vier deutsche Kino-Neustarts pro Woche. Im Angesicht dieser Zahlen erscheint es logisch, dass der deutsche Film seine Talente frisst. Warum? Weil er es kann. Immer wieder kommen neue Talente nach, die ihre ersten Projekte erneut für wenig Geld auf die Beine stellen. Aus der Nachwuchsspirale erwachsen die wenigsten, spätestens die Klippe vom zweiten zum dritten Film erscheint wie der tiefe Abgrund. Erinnern Sie sich noch an Michael Schorr? Mit seinem Debütfilm Schultze Gets The Blues gewann er 2003 beim Filmfestival in Venedig den Controcorrente-Regiepreis und lockte anschließend fast eine halbe Million Menschen ins Kino. Danach floppte sein Folgefilm Schröders wunderbare Welt 2006 mit etwas über 8.000 Kinobesuchern bundesweit. Seitdem gibt es keinen neuen Schorr-Film. Woher um alles in der Welt kommt es, dass wir in Deutschland unsere Talente einfach wegwerfen können? Was würde Joe Hembus dazu sagen? Vielleicht: „Der deutsche Film kann gar nicht besser sein“? In 55 Jahren hat sich viel geändert, aber nicht viel verändert.

P.S.: Der Filmstandort Deutschland könne laut Staatsministerin Grütters mit dem FC Bayern München verglichen werden (2015 geäußert in Cannes – finanziell sei man gut aufgestellt, aber immer wieder knapp gescheitert). Nur, dass der FC Bayern einen aus dem eigenen Nachwuchs stammenden Mats Hummels nun für teures Geld wieder zurückkauft und auf die große Bühne hebt. Wie ist das in der Filmbranche? Nach Jahrzehnten in Hollywood kehrt Regie-Ikone Wolfgang Petersen in diesem Jahr in seine Heimat zurück, um die an Weihnachten startende Gangsterkomödie Vier gegen die Bank zu realisieren. Erfolg garantiert, die Hauptdarsteller sind „vier für die Bank“: Til Schweiger, Matthias Schweighöfer, Michael Bully Herbig und Jan Josef Liefers. Petersen freue sich sehr auf diese Arbeit, heißt es. Doch einen Seitenhieb auf die deutsche Förderlandschaft konnte er sich bei der Pressekonferenz vor den Dreharbeiten nicht verkneifen: „Das Budget von Vier gegen die Bank ist ein Zwanzigstel des Budgets von Troja.“ Fortsetzung folgt.

(Harald Mühlbeyer und Urs Spörri)

Harald Mühlbeyer arbeitet seit seinem Studium der Filmwissenschaft in Mainz als freier Filmjournalist. Seit 2014 Verleger im Mühlbeyer Filmbuchverlag. Veröffentlichungen unter anderem für epd Film, ray, kino-zeit.de, cinefacts.de, Indiekino Berlin; Redakteur bei screenshot-online.com. Buchveröffentlichungen im Schüren-Verlag: „Perception is a Strange Thing“. Die Filme von Terry Gilliam (2010) und — zusammen mit Bernd Zywietz — Ansichtssache. Zum aktuellen deutschen Film (2013). Schreibt an einem Buch über Helge Schneider.

Urs Spörri kuratiert und moderiert deutschsprachige Kinoreihen im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt/M., vor allem in Kooperation mit der Fachzeitschrift epd film die Filmreihe „Was tut sich — im deutschen Film?“ samt ausführlichen Werkstattgesprächen mit den Filmemachern. Seine regelmäßigen Festivalstationen sind der Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken, die Berlinale, das Festival des deutschen Films in Ludwigshafen sowie die Hofer Filmtage. Außerdem hat er selbst jahrelang das FILMZ Festival in Mainz in führender Position mitverantwortet. www.kultur-event.com / www.was-tut-sich-im-deutschen-film.de

Hier geht es weiter zum folgenden Teil unserer Serie zum deutschen Film „Woher rührt der schlechte Ruf?

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