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Ein Summen in der Landschaft der Bilder: Das Kino von Kelly Reichardt

Auf dem Filmfestival Locarno wird die amerikanische Regisseurin mit einem Ehrenleoparden als innovative Stimme des amerikanischen Kinos geehrt. Wir nehmen euch mit auf einen Streifzug durch ihre sehr besonderen Filme.

Meinungen
Kelly_Recihardt

Das Kino von Kelly Reichardt ist schweigsam. Es beobachtet und gibt seinen Figuren eine eigene Zeit. Das Innere wird nicht ausgeplappert und durch psychologische Dramaturgien verdeutlicht. Es ist einfach da, im Inneren von Kurt („Old Joy“), „Wendy and Lucy“ und Laura („Certain Women“). Man will diese Figuren in der Tat immer mit dem Vornamen ansprechen, weil sie einem so nah gehen und aus dem Film heraus begleiten. Diese Ruhe hat etwas Tröstendes, auch wenn die Filme von Kelly Reichardt wenig Grund zum Optimismus geben. Aber allein, dass wir als Zuschauer*Innen einfach sein dürfen, uns nicht gesagt wird, wie wir zu empfinden haben, ist wohltuend. Dieser unaufdringliche Pessimismus ist vergleichbar mit einem Summen aus der Ferne dieser Landschaften. Davon sind die Filme übervoll – vom amerikanischen Land. Die Großstädte kommen nicht vor, was aber nicht bedeutet, dass die Regisseurin auf das Klischee der Weite hereinfällt: Das Land der unendlichen Möglichkeit ist bei Kelly Reichardt auch in der Natur verdammt eng.     

Wendy and Lucy

Im Jahr 2008 fanden zwei hochtalentierte Künstlerinnen zusammen und drehten gemeinsam den ergreifenden Indiefilm Wendy and Lucy, der die Situation einer obdachlosen jungen Frau (und von deren Hündin) schildert. Eine dieser beiden Künstlerinnen war die Drehbuchautorin und Regisseurin Kelly Reichardt, die andere die Schauspielerin Michelle Williams. Reichardt hatte zu diesem Zeitpunkt bereits die Spielfilme River of Grass (1994) und Old Joy (2006) sowie diverse Kurzfilme in Szene gesetzt, Williams war indes durch die Teen-Serie Dawson’s Creek (1998-2003) bekannt geworden und hatte sich durch ihre eindrückliche Nebenrolle in Brokeback Mountain (2005) auch im Kino einen Namen machen können. Dass sich dieses Duo gesucht und gefunden hat, beweist allein schon die Anzahl der Werke, die es seither als Team realisiert hat, bis hin zum aktuellen Showing Up, der in diesem Jahr in Cannes seine Premiere feierte.

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Wendy and Lucy ist ein ungemein kraftvoller Film, nicht zuletzt deshalb, weil er sich ganz der stillen und genauen Beobachtung widmet, voller Empathie und Interesse an den beiden Titelfiguren. Was bedeutet es, keinen festen Wohnsitz zu haben? Mit welchen Hindernissen wird eine Person in dieser Lage konfrontiert? Überdies wird hier so schön und nachvollziehbar von einer Freundschaft zwischen Mensch und Tier erzählt, dass sich ohne eine Spur von Kitsch auch Wärme in diese Geschichte einschleicht.

Wendy and Lucy ist nicht zum Streamen verfügbar, es gibt aber eine DVD zu kaufen.

Andreas Köhnemann

Auf dem Weg nach Oregon (OT: Meek’s Cutoff)

Im Weste(r)n nichts Neues? Von wegen! Hier zeigt Reichardt das Genre aus femininer Perspektive. Die Handlung spielt Mitte des 19. Jahrhunderts. Im Zentrum stehen drei Siedlerfamilien, die sich auf ihrer strapaziösen Reise verirren, weil ihr Anführer Stephen Meek (Bruce Greenwood) eine vermeintliche Abkürzung gewählt hat. Alsbald erweist sich die selbstbewusste Emily (Williams) als die bessere Führungsperson.

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Das Werk, das auf historischen Tagebüchern basiert, lebt von seinen herben und doch schönen Bildern sowie seinen ungewöhnlichen Figuren und dem nuanciert agierenden Ensemble (zu dem auch Paul Dano und Zoe Kazan gehören). Auf subtile Weise dekonstruiert Reichardt Cowboy- und Helden-Klischees. Eine echte Genre-Perle!

Auf dem Weg nach Oregon ist nicht zum Streamen verfügbar, es gibt aber eine DVD zu kaufen.

Andreas Köhnemann

Certain Women

Dieser Film ist ein Ehedrama, ein trauriger Liebesfilm und eine Geschichte über Verantwortung. Drei Kurzgeschichten von Maile Meloy bringt Kelly Reichardt in ihrem Film zusammen. Jede erzählt eine Geschichte, nein – jede Episode schafft Raum für ganz besondere Figuren, die für die Zeit des Films ihr Leben leben, sich durchschlagen und weitermachen. Es handelt sich eher um Porträts von Frauen, die nicht stark sein müssen, wie es immer so gerne heißt. Sie stehen einfach an einem ganz bestimmten Punkt in ihrem Leben, an dem sie mit einer Wahrheit umgehen müssen, ohne dass es zum großen Drama kommt. Die große Tragödie bleibt aus, wie so oft im Leben eben auch: Man findet ein Arrangement.

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Da ist die Anwältin Laura (Laura Dern), die sich um einen verzweifelten Klienten kümmern muss. Gleichzeitig hat sie eine Affäre mit Ryan (James LeGros), dessen Ehe mit Gina (Michelle Williams) in eine Krise geraten ist. Die beiden wollen eigentlich ein neues Haus bauen, doch Gina fühlt nur wenig Unterstützung von ihrem Ehemann. Gleichzeit entspinnt sich aus einer Begegnung zwischen der jungen Native American Jamie (Lily Gladstone) und der frustrierten Juristin Beth (Kristen Stewart) eine unerwiderte Liebe.

Certain Women ist ein introvertierter Film, der die Einsamkeit einfängt, die passiert, während wir unsere Leben leben. Das muss nicht immer eine große Sache sein. Im Falle von Kelly Reichardts Film ist es großes Kino der genauen Beobachtung.

Certain Women ist bei den gängigen VoD-Anbietern zum Streaming verfügbar.

Sebastian Seidler

First Cow

Kelly Reichardt erzählt Geschichten über Menschen, die selten auf der Leinwand zu sehen sind. Menschen am Rande der Gesellschaft, die sich ständig bewegen, kämpfen und überleben müssen.

In First Cow verschlägt es uns ins Oregon der 1820er Jahre und damit in die Kolonisierung des Territoriums der First Nation. Inmitten des aufkeimenden American Dream und der Vermischung von Menschen unterschiedlichster Herkunft, die in den ländlichen Gebieten zur Zeit des Frühkapitalismus ihr Glück suchen, konzentriert sich First Cow auf die liebevolle Freundschaft zwischen dem Amerikaner Cookie Figowitz (John Magaro) und dem chinesischen Einwanderer King-Lu (Orion Lee). Sehr subtil und unter Vermeidung von Klischees legt Reichardt Gesten und Gespräche in die Hände und Münder der Männer. Zugewiesene Rollen auf Grund von Geschlecht und Ethnizität werden in Frage gestellt. Neben dem stillen Drama menschlicher Beziehungen betont First Cow auch die heilende und tröstende Kraft von gutem Essen. Reichardt lenkt unsere Aufmerksamkeit auf den Prozess der Zubereitung von Lebensmitteln, indem viel Zeit darauf verwendet wird, das Sammeln, Zubereiten, Backen und Essen von Lebensmitteln zu zeigen.

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Kelly Reichardt ist eine meisterhafte Beobachterin der menschlichen Natur — sowohl in Bezug darauf, wie Menschen miteinander in Verbindung treten, als auch, wie sie daran scheitern.

First Cow ist auf MUBI und Amazon Prime zum Streaming verfügbar.

Sophia Derda

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