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Aufgestöbert: Fabrice du Welz

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Im Internet kann man angeblich alles finden. Allerdings nur, wenn man vorher bereits weiß, wonach man suchen muss. Außerdem: Trotz zahlloser Streaming-Plattformen gibt es Filme, die auch im digitalen Raum kaum auffindbar sind. Dabei gibt es eine ganze Reihe Regisseur*Innen, deren Werke mehr Aufmerksamkeit verdient haben. Solche stellen wir in unserer neuen Reihe AUFGESTÖBERT vor. Den Anfang macht der Belgier Fabrice du Welz.

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du welz
Adoration / Eiskalter Engel / Alleluia

Innerhalb der Welle harter französischen Horrorfilme – der sogenannten New French Extremity – gilt Pascal Laugiers kluger (aber auch an der Grenze des Erträglichen angesiedelte) Martyrs als künstlerischer Höhepunkt. Darin wird mit Gewalt über einen Zirkel der seelischen Verwüstung auf einer hochphilosophischen Ebene nachgedacht. Bis heute kann man sich dem Film kaum entziehen. Mit Calvaire hat der belgische Regisseur Fabrice du Welz 2004 einen Film veröffentlicht, der mit ähnlich religiös-transzendenten Motiven spielt und einen so monströsen Sog dunkler Liebesobsession entfaltet, dass es durchaus verwunderlich ist, dass so wenige davon Notiz genommen haben. Ähnliches gilt auch für das weitere Schaffen dieses Regisseurs, der sich mit spielerischer Leichtigkeit zwischen Arthouse und Genrefilm bewegt. An dieser Stelle folgt der Versuch einer Annäherung an ein komplexes und anspruchsvolles Kino, in dem es eine ganze Menge zu entdecken gibt. Nicht alles wird sich erschließen, weil dem Kino von du Welz immer auch eine Ambivalenz und ein ungreifbares Mysterium innewohnt.

Eine heruntergekommene Kneipe im Grünstich düsterer Bilder. Die Gestalten sitzen stumm vor ihren Bieren, verziehen keine Miene. Alles scheint bereits gesagt, die Wörter verbraucht und aufgezehrt. Da steht einer der Gäste auf und setzt sich an das alte, ziemlich verstimmte Klavier und beginnt, eine rauschhaft-kreisende Melodie zu spielen, die mehr einer katatonischen Atonalität, einem Anfall ähnelt. Was dann folgt, kann man nur als einen Tanz der Toten bezeichnen: Etwas an diesem Ort hat überlebt, sich überlebt und überlebt sich noch weitere Jahre. Alle stehen auf und tanzen, so als würde sich die ganze Kneipe in ein Glockenspiel verwandeln. Die Komik der Szene schließt sich mit grauenhaft-verlebter Unmenschlichkeit kurz.

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Dabei verweist du Welz auf einen Tanz im Film Ein Abend … ein Zug des belgischen Regisseurs André Delvaux (mein Dank geht an meinen guten Freund Marcus Stiglegger, der mir diesen Hinweis gegeben hat), in dem auf beinahe dieselbe Weise getanzt wird. Interessant, dass dieser alte Film vom Verschwinden einer Frau handelt, und sich in Calvaire die Abwesenheit der Frauen geradezu aufdrängt … erzählt der Film doch davon, dass ein morbid-trauriger Wirt einen Alleinunterhalter als Ersatz für seine Frau einsetzen will.

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Durch eine Referenz reflektiert der Film also auch die Liebe beziehungsweise deren Absenz, den dunklen Abgrund derselben: Hier verwest nur noch das Patriarchat, zuckt und vergeht sich an den Tieren im Stall. Im Grunde ist der Schrecken der Liebe auch das zentrale Thema, das sich durch viele Filme von Fabrice du Welz zieht. In seiner blutrünstigen Erbschleicher-Variante Alleluia begibt sich ein Paar auf eine blutrünstige Reise: Gloria (Lola Duenas) geht eine Beziehung mit Michel (Laurent Lucas) ein, der vor allem ältere Frauen um ihr Hab und Gut bringt. Die Liebe ist seine Waffe, mit der er zu seinem Geld kommt und dann einfach verschwindet.

Auch Gloria ereilt dieses Schicksal – zunächst. Doch so einfach lässt die Frau ihre große Liebe nicht gehen. Sie wird Partnerin und kann doch ihre Eifersucht nicht zügeln, wenngleich sie weiß, wie Michel vorgeht: Der Sex gehört zu seiner Verführung dazu. Damit will sich die Angetraute nicht abfinden. Im Gefühlswahn tötet Gloria eine „Konkurrentin“, und der Taumel in den Abgrund beginnt.

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So sehr diese Geschichte nach einem B-Movie klingen mag, so elegant erzählt Fabrice du Welz vom unbändigen Begehren und davon, wohin Besitzansprüche führen können. Mysteriös und beunruhigend, ohne erkenntliche Psychologie schreitet der Film voran – man sehnt sich nach einer Erklärung, obgleich man sehr früh ahnt, dass man sich in einer Abwärtsspirale à la Bonnie und Clyde befindet, ohne Grund und greifbare Motivation. Der Horror entspringt der Distanz, in die uns der Film einspannt, in der man ständig die Figuren schütteln möchte: Wacht auf und hört auf!

Ebenso beunruhigend ist die kindliche Amour Fou in Adoration – womöglich du Welz‘ bester Film, dem hierzulande allerdings keine Veröffentlichung zuteilwurde. Ein Skandal, auf jeden Fall. So weiß man nie, was dieser Film eigentlich sein will. Ein Märchen? Ein Drama? Ein leiser Horrorfilm?

So seltsam es sich auch anhören mag: Dieses Coming-of-Age-Drama ist eine Reise in das Herz der Finsternis, erinnert mit seinen elegischen Flussfahrten entlang des Waldes durchaus an die Atmosphäre in Apocalypse Now. Vielleicht erzählt Adoration vom Krieg und den Expeditionen der Liebe. Auch hier endet die Reise der beiden Protagonisten im Camp eines Alleinherrschers, wenngleich es sich um eine invertierte Colonel-Kurtz-Figur handelt: Hinkel (Benoît Poelvoorde) ist einer von Sehnsucht nach seiner verstorbenen Frau zerfressener Einsiedler, ein Kauz, dessen Leben zu einem Stillstand gekommen ist. Er wird alles zum Kollabieren bringen, der Reise von Paul (Thomas Gioria) und Gloria (Fantine Harduin) ein Ende setzen.

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Zunächst lebt der Zwölfjährige mit seiner Mutter in einer psychiatrischen Klinik, in der sie wiederum angestellt ist. Als eines Tages die schizophrene 15-jährige Gloria eingeliefert wird, kommt es wie bereits in Calvaire und Alleluia zu einer unheilvollen Beziehung. Paul flieht mit der jungen Frau, will sie retten – sie, die selbst nicht weiß, woher sie kommt und wohin sie eigentlich will. Der Wahnsinn, also der Wahn der Sinne, erhält hier erneut eine Variante im Werk von Fabrice du Welz: ein Märchen, gefilmt in großartigen Bildern, die nicht von ungefähr an Dario Argento erinnern – an Suspiria und Phenomena, zwei Horrorfilme, in denen altehrwürdige Häuser eine Rolle spielen und die mitunter barock inszeniert werden und sich im Strom der Natur auflösen. Natur und Kultur, zwei Konstanten.

Ein ähnliches Haus wird auch im Psychothriller Eiskalter Engel auftauchen, in dem eine Fremde das Leben einer Familie aus den Angeln hebt. Da kann man schonmal die Frage stellen, ob es sich bei all diesen opulenten Häusern nicht doch um eine Topologie der Psyche handelt, der Regisseur eine Erstarrung der bürgerlichen Ordnung fürchtet.

Und im kompromisslosen Beziehungshorror von Vinyan, in dem sich eine psychische Landschaft der Verwüstung durch den burmesischen Dschungel zieht, spielen Wald und Wasser bereits 2008 eine große Rolle. Daher erscheint Adoration wie eine große, vertiefende Variation der Motive: Selbst in der Unschuld der Jugend gibt es keine Erlösung.

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Das ist ohnehin die große Stärke von du Welz: Seine Bilder atmen das Kino. Gerade ein kleiner, garstiger Genre-Beitrag wie Eiskalter Engel sieht nach großer Leinwand aus. Die Hitze flirrt, das Blut kocht – eine Sinnlichkeit liegt in allem, was dieser belgische Regisseur anpackt. Egal ob es sich nun um den schonungslosen Polizeithriller Colt 45 handelt, in dem die Geschlechterverhältnisse ständig mitverhandelt werden, oder um den Rachethriller Message from the King (mit Chadwick Boseman), der sicher zu den schwächeren Filmen des Belgiers zählt. Immerzu ist da ein Gespür für tiefe Bilder, wie man sie gerne im Kino sehen will. Schade nur, dass man den Namen dieses Regisseurs so vielen ins Notizbuch schreiben muss. Andererseits: Es gibt noch so viel zu entdecken. 

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