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Nachflimmern: Another Year

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

„Another Year“ ist wie der Kaffee zum Frühstück, die ungebügelte Wäsche und der Zauber eines Sommerregens. Ein Nachflimmern in den Alltag hinein.

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Another Year (2010)
Another Year

Jede Woche erscheinen auf den bekannten Streaming-Plattformen Unmengen von Filmen. Wir können uns vor Geschichten, Filmen und Serien, ja vor Bildern gar nicht mehr retten. Doch wenngleich es so scheint, als wäre alles nur einen Klick entfernt, gibt es am Rande dieser Masse immer noch Filme, die kurz vor dem Vergessen stehen und dabei so schön hell und verlockend flimmern. „Another Year“ ist ein Film, der immerzu unterzugehen droht, weil er so leise und scheinbar alltäglich ist. Dabei steckt die Magie in den kleinen Details, die Mike Leigh wie kaum ein zweiter Regisseur inszenieren kann.

Another Year. Bereits der Titel des Filmes ist von angenehmer Unaufgeregtheit. Ein weiteres Jahr also, ein Ausschnitt aus dem Leben eines älteren Londoner Durchschnittspaares. Warum sollte man sich für so einen Film überhaupt interessieren? Alltag und Probleme hat man doch auch zu Hause. Wenn schon Drama, dann bitte in Übergröße und schillernd-katharsisch. Aber bitte doch nicht so… oder?

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In der Tat erscheint Mike Leighs stiller, zärtlich-einfühlsamer Film heute wie aus der Zeit gefallen, oder noch schlimmer: als hätte es diese Zeit gar nicht gegeben, in der solche Filme gedreht wurden. Wir beobachten Figuren, folgen ihrem Leben: ein ganzes Jahr von Frühling bis Winter. Tom (Jim Broadbent) und Gerry (Ruth Sheen) sind die emotionalen Ruhepole des Films. Diese beiden Menschen führen – man mag es kaum glauben – eine glückliche Ehe. Auch die Beziehung zu Sohn Joe (Oliver Maltman) ist ohne Spannungen, liebevoll und voller Respekt. Die Probleme kommen über die Nebenfiguren, wobei das auch schon wieder falsch ist, weil sich um diese Unterscheidung Another Year überhaupt nicht schert: Neben- und Hauptfiguren gibt es nicht. Alle gehören zu diesem Leben, in diesen Film.

Es herrscht eine anti-dramaturgische Gleichheit, die so unendlich erholsam ist, weil keine Figur eine Rolle für den Plot spielen muss. Es gibt einfach keinen Plot, dafür aber Begegnungen und Beziehungen: Man führt mit diesem Film buchstäblich eine Beziehung, trägt ihn mit sich herum, nimmt die Menschen mit auf Reisen in den eigenen Alltag, den man nach dem Abspann hoffentlich etwas demütiger angehen wird. Denn trotz der Leichtigkeit, die vor allem von Tom und Gerry (ja, der Witz liegt auf der Hand) ausgeht, beschäftigt sich Another Year mit schweren Themen: Einsamkeit, Depressionen und Tod. 

Tom, Gerry und Joe: Keine Spannungen in der Familie. © Prokino

Da ist die unendlich nervige Freundin Mary (Lesley Manville), die in ihrer Einsamkeit und Verlorenheit ständig überkompensiert. Sie trinkt, redet und lamentiert zu viel. Zudem hat sie ein Auge auf Joe geworfen, der das Spiel ein wenig kokettierend mitspielt. Als er jedoch seine neue Freundin vorstellt, reicht es selbst Gerry: Mary reagiert so ablehnend und offen feindselig, dass es beim Zusehen schmerzt – auch weil man es kennt, von den eigenen Abendessen mit Freunden. Mike Leigh erinnert uns daran, dass Menschen kompliziert, kauzig und seltsam sein können. Nur sollten wir sie niemals aufgeben, wenn wir sie als Freunde begreifen. 

Neben Mary, spielt der alkoholkranke, kettenrauchende und übergewichtige Ken (Peter Wight) eine wichtige Rolle: ein Mensch, der sich in seinem eigenen Leben nicht mehr wohlfühlt und dessen gutes Herz sich einfach nach der nächsten Umarmung sehnt. Der Pub ist seine einzige Kultur, und wenn er schwitzt, trägt er einen herzförmigen Schweißfleck auf der Brust. Es ist traurig und gleichzeitig unendlich komisch, diesem liebenswürdigen Lotterbär zuzusehen. Another Year zeigt all diese Schwächen, ohne auch nur ein einziges Mal zu werten. So ist das Leben, flüstert die Musik, die ruhig-konzentrierte Montage. Aber fragen wir erneut: Warum sollte man sich das ansehen?

Less thinking, more drinking: Ken und Mary sind verloren Seelen. © Prokino

Der Alltag ist schon eine seltsame Angelegenheit. Wenn sich ein Paar trennt, hören wir nicht selten die Floskeln, die Liebe sei im Alltag unter die Räder gekommen. Dabei erscheint der Alltag als problematischer Alltag erst, wenn es nicht mehr läuft. Wenn das, was das beständige Rauschen im Hintergrund ausmacht, der Kaffee am Morgen oder die Suche nach dem Autoschlüssel, selbst ins Stocken geraten. Nicht der Alltag ist das Problem, sondern der Umgang damit: wenn wir die Dinge nicht mehr atmen, sie als selbstverständlich erachten und auf sie blicken wie auf ein Regal eines schwedischen Möbelhauses. Das macht die Filme von Mike Leigh so großartig: Sie tauchen ein in den Alltag und bringen eine Poesie darin zum Vorschein, erzählen von der sinnlichen Welt unterschiedlicher Schichten, ohne in eine kitschige Verklärung zu verfallen. 

Another Year ist ein Film, der uns mit dem Alltag versöhnen kann.

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