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Mut zur Lücke: Der unsichtbare Dritte

Ein Beitrag von Mathis Raabe

Der Kanon ist ein lähmender Imperativ. Eigentlich sollte man alles gesehen haben, die gesamte Filmgeschichte. Hat man aber nicht. In dieser Reihe schreiben unsere Autor*innen über eben jene Lücken, über die man sonst gerne schweigt. Diesmal: Hitchcocks „Der unsichtbare Dritte“. Wie, den hat Mathis Raabe noch nicht gesehen?

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Mut zur Lücke Hitchcock

### Vor dem Film ###

Vor einigen Jahren habe ich mal ein Seminar von Sulgi Lie über neuere filmtheoretische Ansätze besucht. Darin ging es, so ich mich erinnere, unter anderem darum, sich Filmen anhand von unwillkürlichen grafischen Elementen zu nähern. Alfred Hitchcocks Arbeiten bieten sich dafür an. Sie sind voller Geometrie und Binnenkadrierungen. Das stellt zum Beispiel der Vorspann von Der unsichtbare Dritte unter Beweis: Animierte Schachbrettmusterlinien werden bald zu einer gläsernen Hochhausfassade, in der sich der Verkehr von New York spiegelt.

Der Theoretiker Tom Cohen hat diese Beschäftigung mit unwillkürlichen Bildelementen besonders weit getrieben und Hitchcocks Filme nach wiederkehrenden Zeichen und Codes durchsucht, die er „Geheimagenten“ nennt. Das ist reizvoll, weil es den Filmtext an sich betrachtet, den Autor und sein Weltbild radikal ausklammert. Mitunter wird gar von post-humanistischer Filmtheorie gesprochen. Cohens Buch Hitchcock’s Cryptonomies schulde ich der Universitätsbibliothek wohl immer noch, wie mir ein Blick aufs Regal gegenüber der Couch verrät. (Nicht weitersagen.)

Neben den horizontalen und vertikalen Linien im Vorspann kenne ich natürlich auch die berühmte Maisfeldszene, in der Cary Grant von einem Flugzeug durch US-Hinterland verfolgt wird. Sie ist eine der berühmtesten Hitchcock-Szenen überhaupt, vielleicht nur übertroffen von der Messerattacke unter der Dusche in Psycho, und deshalb auch auf allen neueren Plakaten oder DVD- und Blu-ray-Covern des Films zu sehen. Das Originalplakat von 1959 zeigt dagegen auch die berühmten Präsidentenskulpturen am Mount Rushmore sowie Alfred Hitchcock selbst, der eine überlebensgroße Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger unterm Arm hält. Was diese Hand zu bedeuten hat? Keine Ahnung. Was für eine Szene am Mount Rushmore spielt? Keine Ahnung. Ob ich die Maisfeldszene nur von den vielen besagten Bildern kenne oder sie mir auch einmal vollständig vorgespielt wurde? Ich kann mich nicht erinnern. Ich habe Der unsichtbare Dritte nie gesehen.

© Warner

Ich freue mich tatsächlich sehr darauf, den Film für diese Textreihe nachzuholen. Ich habe lange keinen Hitchcock-Film geguckt, dabei gäbe es in der langen Filmografie des Manns mit der Halbglatze freilich einiges nachzuholen, und was ich kenne, mag ich auch gerne. Und ich bin gespannt, welche geografische Reise der Film unternehmen wird. Schließlich implizieren allein die mir bekannten Bilder – New Yorker Hochhausfassade, Mount Rushmore, Maisfeld – und natürlich der Originaltitel North by Northwest, dass einige Meilen zurückgelegt werden.

Es ist müßig, hier aufzulisten, was alles an Kontextwissen und Palimpsest in eine Hitchcock-Sichtung einfließt. Wie viele andere auch verweise ich natürlich ständig unwillkürlich auf Hitchcock, wenn ich über Filme spreche, sei es aufgrund von Suspense, eines Vertigo-Effekts oder weil mal wieder jemand eine lange Plansequenz bemüht hat, die lang nicht so gut ist wie die in Cocktail für eine Leiche. Genug des Vorgeplänkels. Film ab.
 

### Nach dem Film ###

Selten habe ich einen Mann so tiefenentspannt um sein Leben fliehen sehen wie Cary Grant. Kaum ein Knitter im Anzug, nie um einen Spruch verlegen. Noch während hinter ihm Polizisten die Kabinen einer öffentlichen Toilette durchsuchen, steht er lässig am Spiegel und rasiert sich und kommt den ganzen Film über nie auf die Idee, sein äußeres Erscheinungsbild zu verändern, sodass man ihn weniger leicht fände. Vermutlich muss man die Zeit, in der Grant ein Weltstar war und als todescool und -schön galt, aktiv miterlebt haben, um das so richtig nachvollziehen zu können.

Für alle, die den Film nicht kennen – so wie ich bis gestern: Grants Figur wird in Der unsichtbare Dritte mit einem Geheimagenten verwechselt, den es gar nicht gibt, und befindet sich deshalb bald auf der Flucht. Unterwegs wird er von einer Frau verführt, die ebenfalls ein doppeltes Spiel spielt, erweist sich aber als guter Autodidakt, was das Agentenleben betrifft, und greift bald selbst ins Spionagegeschehen ein.

Dass ich Cary Grants Hochzeit nicht aktiv miterlebt habe, äußert sich auch darin, dass seine Altherrensprüche nicht allzu gut gealtert sind. Mancher Moment hat dadurch aber unfreiwilligen Unterhaltswert entwickelt, und damit habe ich wiederum überhaupt kein Problem. Cary Grant und Eva Marie Saint sind bei ihrer ersten Begegnung so horny und ihr Flirt so offensiv, dass man denken könnte, die Dialoge wären aus einem anderen Film: „I’m a big girl.“ „And in all the right places too.“ Auch der Moment, als Grant auf der Flucht durchs Schlafzimmer einer fremden Frau schleicht, die ihn dann gar nicht mehr gehen lassen will, ist ziemlich komisch. Der Moralismus seiner Figur in Bezug darauf, dass Saints Undercover-Agentin von Beruf ihren Charme und ihren Körper einsetzt, und seine paternalistischen Ambitionen, sie aus ihrem Job zu „retten“, haben mich dann allerdings schon genervt.

Aber manches Spiel mit den Geschlechterrollen ist gar clever: Mit dem Klischee der gefährlichen Dame, des Agenten, der sich durch eine Liebschaft zu tief verstrickt, wie es etwa Film-Noir-Protagonisten ständig passiert, wird ein Stück weit gebrochen, wenn die Figuren es bewusst für eine Scharade, eine Täuschung einsetzen. Und ganz am Ende geht Hitchcock dann mit seinem zentralen Liebespaar gar parodistisch um, haut zwei Gags in nur knapp fünf Sekunden raus: Grant und Saint sind plötzlich verheiratet, und ein Zug düst in einen Tunnel – eine Sex-Metapher.

Horny aufeinander: Cary Grant und Eva Marie Saint. © Warner

Genug von Cary Grant und dem Sex, sprechen wir über die Action, denn: Dies scheint mir der Blockbuster unter Hitchcocks Werken zu sein. I mean: Das Finale ist ein Kletterduell entlang den Nasen von George Washington und Thomas Jefferson, inklusive einiger atemberaubender Stunts und schwindelerregender Kameraarbeit. Tom Cruise could never.

Ein interessanter Hitchcock-Schachzug: Kurz vor dieser Szene am Mount Rushmore, während Grant und ein Geheimagent einen gemeinsamen Plan besprechen, wird der Dialog von Flugzeuggeräuschen übertönt. Die Figuren wissen, was passieren soll, das Publikum aber nicht. Oft funktioniert Hitchcocks Suspense ja genau andersherum.

Der Spannungsaufbau in der berühmten Maisfeldszene funktioniert tatsächlich noch besser, wenn man die Szene schon in der Theorie kennt. Während Grant noch vorbeifahrenden Autos nachsieht, in der Hoffnung, gleich abgeholt zu werden, ist schon zu Beginn der Szene weit in der Ferne ein Flugzeug zu sehen. Sehr effektive Mann-gegen-Auto-Szenen gibt es so einige in der Filmgeschichte, von Spielbergs Duell bis Carpenters Christine. Unter den Mann-gegen-Flugzeug-Duellen ist dieses wohl eindeutig die Nummer eins, allein weil viele andere Zitate sind. Bin ich der Einzige, dem da als Erstes die Parodie in Leslie Nielsen ist sehr verdächtig einfällt, in der sich das Flugzeug als Modellflugzeug herausstellt?

Ob Der unsichtbare Dritte – der deutsche Titel erschließt sich übrigens auch nach dem Sehen nicht – einer meiner Lieblings-Hitchcocks wird, werde ich erst mit etwas Abstand feststellen können. Schließlich präsentiert dieser Agentenfilm mit Ansätzen einer Genreparodie unter anderem eine Figur, die es nicht gibt, eine Figur, die auf Sex mit potentiellen Mördern steht, und noch allerlei anderes doppeltes Spiel. Es ist ein komplexer Film und gleichzeitig irgendwie Popcornkino von einem Regisseur, der an diesem Punkt reichlich kreative Freiheit hat und handwerklich eh auf dem Höhepunkt seines Schaffens ist.

Um von den Parkwächtern die Drehgenehmigung für den Mount Rushmore zu bekommen, behauptete Hitchcock, wie man nachlesen kann, auf keinen Fall sei an dieser Location eine Actionszene geplant, seine Intention sei vielmehr, der Welt die wunderbaren Sehenswürdigkeiten Amerikas näherzubringen. Allein das – US-Offizielle im Dienste der Kunst an der Nase herumzuführen – finde ich natürlich respektabel. Was die Hand unter Hitchcocks Arm auf dem Poster soll, weiß ich immer noch nicht. Sie scheint auf Cary Grants Schuh zu zeigen, und sich ausbreitende Linien laufen ihr entgegen. Tom Cohen hätte am Analysieren dieser scheinbar wahllosen Zeichen sicher große Freude.

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