zurück zur Übersicht
Streaming-Tipps

Schweigen auf der Leinwand: Filme ohne (gesprochene) Sprache

Meinungen
Filme ohne Sprache

Als der Film zur Welt kam, war er stumm. Zwar niemals gänzlich – Musik war von Anfang an ein steter Begleiter des projizierten Bildes –, doch es dauerte bis zum Jazzsänger 1927, bis der Film die gesprochene Sprache für sich entdeckte und damit ein neues Mittel, um seine Geschichten zu erzählen. Mittlerweile ist der Verzicht auf gesprochene Sprache (wie auch der auf Farbe) kein produktionstechnischer Zwang mehr, sondern eine bewusste kreative Entscheidung. Mit ganz unterschiedlicher Wirkung, aber der großen Gemeinsamkeit, dass sich der Film damit auf seine Ursprünge als primär visuell erzählendes Medium zurückbesinnt.

Der neueste Streich in dieser Hinsicht: „Robot Dreams“, ein zuckersüßer Animationsfilm über einen Hund und seinen Roboterfreund. Die Botschaft ist eindeutig: Echte Freundschaft braucht keine Worte. Stumm ist zwar auch dieser Film nicht, er arbeitet stark über Musik- und Sound-Ebene. Das Fehlen gesprochener Worte verleiht der Geschichte jedoch eine puristische Universalität, die im Kino selten ist. Wir haben weitere moderne Filme gesammelt, die ganz oder zumindest größtenteils auf das gesprochene Wort verzichten.
 

The Tribe

Ein Film, der ins Mark fährt: Die ukrainische Produktion The Tribe aus dem Jahr 2014 spielt an einem Internat für taubstumme Jugendliche, an der eine Gang mit Gewalt, Erpressung und Prostitution den Hof regiert. Der Neue an der Schule, Sergey, will innerhalb des „Tribes“ aufsteigen — und verliebt sich in ein Mädchen, das zur Sexarbeit gezwungen wird.

Gesprochen wird in The Tribe sehr wohl — allerdings nur in Gebärdensprache mit dem bewussten Verzicht auf Untertitel. Verständlich ist die Geschichte dennoch auch für alle, die dieser Sprache nicht mächtig sind, weil der Film durchaus bekannte (zuweilen auch klischierte) Sujets und Stereotype bedient, aber auch bestens über seine Bildebene funktioniert. Wenn sich Sergey und seine Geliebte nackt ineinander verschlungen gegenübersitzen und mit Handzeichen kommunizieren, dann ist das damit Gesagte gar nicht so wichtig — die Situation selbst hat mehr als genug visuelle Poesie.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

An einer Stelle nutzt The Tribe aber doch die Stimme einer seiner Figuren: einen schmerzerfüllten Schrei, was in einer der unangenehmsten Szenen des vergangenen Filmjahrzehnts resultiert. Manchmal sorgt der Verzicht auf etwas eben genau dafür, dass sie Wiederkehr umso wirkungsvoller ist.

Christian Neffe

Gunda

Auf den ersten Blick ist es vielleicht geschummelt, hier einen Dokumentarfilm über Tiere aufzuführen. Klar, dass die titelgebende Sau und ihr Nachwuchs nicht sprechen, und die gezeigte Hühnerschar ebenso wenig. Victor Kossakovsky und seine ruhigen Schwarzweißbilder schaffen es aber, den Tieren so viel Ausdruck zu verleihen, dass Gunda ähnlich wie ein Spielfilm funktioniert – und demonstrieren somit auch, wie viel die Kunstform ohne Sprache, allein über Kameraarbeit, über Bewegungen, Blicke und Perspektiven sowie über Schnitte und die Lücken, die zwischen ihnen entstehen, erzählen kann.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Natürlich geht es dabei darum, dass dies Tiere sind, die von Menschen gegessen werden. Zäune und schließlich auch ein drohender Abtransport verweisen auf die Menschen, die über das Leben dieser Tiere verfügen. Gunda ist aber kein Film, dessen Aktivismus einem entgegen springt. Statt den Horror des Schlachthofs zu inszenieren, zeigt er das Leben von Gunda und ihren Mitbewohnern, vielleicht sogar: das Leben aus deren Perspektive. So fragte sich etwa Kino-Zeit-Autor Lars Dolkemeyer, der den Film besprochen hat, beim Betrachten des schlafenden Schweins, wovon Schweine wohl träumen.

Mathis Raabe

Silent Night – Stumme Rache

Dieses Gefühl, wenn man sein totes Kind in einer Weihnachtsbaumkugel sieht…

Die Idee, Silent Night gänzlich ohne Dialoge zu erzählen, hatte Drehbuchautor Robert Archer Lynn, schon bevor Hongkong-Action-Meister John Woo als Regisseur verpflichtet wurde. Der ist einerseits ein guter Match, weil seine Filme ein starker visueller Stil auszeichnet, andrerseits herausgefordert, weil Woo für Melodrama und große Emotionen bekannt ist, die er hier nun allein aus den Bildern ziehen muss.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Mal klebt die Kamera an Hauptdarsteller Joel Kinnaman, was zu nicht immer ganz ernstzunehmenden Szenen führt, etwa wenn er mit der Faust in einen Spiegel schlägt – allerdings wirkt das Bemühen von Klischees in dieser Genre-Versuchsanordnung gar nicht so fehl am Platz. Oder Woo arbeitet mit Longtakes, gerade bei den Verfolgungsjagden und Schießereien, die die Gefühlslage der Hauptfigur durchs Malträtieren des Körpers in Echtzeit sehr eindrücklich vermitteln. Und mitunter muss man eben einen Flashback via Weihnachtsschmuck inszenieren, um die Gravitas der Situation in Erinnerung zu rufen.

Pathetisch? Sicher. Aber das war John Woo schon immer, der Mut zur großen Gefühlsgeste zeichnet ihn aus. Seine beste Hollywood-Arbeit seit einer ganzen Weile bildet zudem einen Appell, das Action-Genre auch mal auf seine Grundbausteine zurückzuführen. Von dort aus kann man neue Formen finden.

Mathis Raabe

Zwei Perlen aus Spanien: La Antena und Blancanieves

Keine Ahnung, warum das so ist, aber das spanische Kino brachte mit kurzem Abstand gleich zwei moderne Stummfilme hervor, die beide rückblickend als echte Perlen des Revivals angesehen werden können. Den Beginn macht Esteban Sapirs atemberaubender Film La Antena aus dem Jahr 2007, der voller Anspielungen auf die großen Werke der Silent Era ist, dennoch aber kein Pastiche darstellt, sondern eine sehr eigenwillige und kunstvolle Verneigung vor den großen Werken aus der Frühzeit des Kinos von Die Reise zum Mond bis hin zu Metropolis.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Passenderweise in einer Stadt ohne Stimme (im Original: „Ciudad sin voz“) angesiedelt, deren Bewohner die Fähigkeit zu sprechen verloren haben, wird die Bevölkerung von einem finsteren Herrscher namens Señor TV unterdrückt, der das Fernsehen als Hauptmittel seiner Manipulationen einsetzt. Im Programm des Senders findet sich auch eine Sängerin namens La Voz wieder, die als eine der wenigen überhaupt noch über eine Stimme verfügt – ebenso wie ihr Sohn, der keine Augen mehr hat. Mit ihrer Hilfe will Señor TV alle in einen Tiefschlaf versetzen, doch ein Fernsehtechniker und seine Tochter leisten Widerstand gegen die Mächte des Bösen.

Für den zweiten Filmen zeichnet Pablo Berger verantwortlich – derselbe, dessen Animationsfilm Robot Dreams als Aufhänger für diesen Text dient. Man kann also durchaus feststellen, dass Berger im Umgang mit stummen bewegten Bildern schon einiges an Übung hat. Wobei Blancanieves, seine Adaption des Märchens vom Schneewittchen, weitaus mehr ist als eine Vorübung, sondern vielmehr ein virtuoses Feuerwerk an visuellen Einfällen, das meiner Meinung nach The Artist klar in den Schatten stellt. 

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

In dem Film, der im Spanien der 1910er Jahre angesiedelt ist, kämpft die Tochter eines berühmten, durch einen Unfall in der Arena an den Rollstuhl gefesselten Stierkämpfers um dessen Anerkennung und gegen eine böse Stiefmutter, die die Verbindung der beiden hintertreibt. Mit der Hilfe einer umherziehenden Gruppe von Kleinwüchsigen avanciert sie schließlich zu einer berühmten Stierkämpferin, was den Verdacht der bösen Stiefmutter auf sich zieht.

Der vielfach ausgezeichnete Blancanieves ist eine wahre Wundertüte an Ideen und großartigen Szenen, ein Film für große und kleine Kinofans, die aus dem Staunen nicht herauskommend werden. Entzückend!

Joachim Kurz

Moebius, die Lust, das Messer

Eine Mutter entmannt ihren Sohn. Eigentlich hätte es den Ehemann treffen sollen, als Strafe für eine Affäre. Weil sich dieser aber der Klinge entziehen kann, muss der Nachkomme seinen Penis abtreten. Er überlebt und muss irgendwie damit klarkommen, dass er seiner Männlichkeit und seines Lustorgans beraubt ist. Mit der Affäre seines Vaters beginnt er ein gefährliches Spiel, während der Herr Papa verzweifelt nach einer Lösung sucht. Und irgendwo geistert Mama durch die Gegend. 

© MFA+ Filmdistribution

Kann es Lust ohne Phallus geben? Was passiert mit Männlichkeit, wenn sie aus der symbolischen Ordnung der Geschlechter ausgeschlossen wird, ihr das (eigentlich immer prekäre) Zeichen von Virilität und Männlichkeit genommen wurde? Moebius, die Lust, das Messer ist ein Film über die Gewalt zwischen den Geschlechtern und vor allem über die Gewalt der Männer, die Frauen benutzen, vergewaltigen und nur um die Errichtung/Erektion kreisen. Alle Charaktere sind besessen vom Phallus, wie auch unsere Gegenwart immer noch besessen ist von diesem Fantasma der männlichen Stärke, der Potenz und der Penetration, die nur dann überhaupt funktionieren kann, wenn weibliche Identitäten als schwach, weich und passiv dargestellt werden.       

In einer Sammlung zum Stummfilm der Gegenwart darf dieser Film folglich nicht fehlen. Einfach deshalb, weil er in seiner Radikalität und metaphorischen Komplexität kaum erreicht wird. Angenehm ist daran wenig. Spaß hat man nicht mit diesen Bildern. Vielmehr scheint diese Geschichte einer fatalen ödipalen Verstrickung, in der eine Kastration zu einer ganzen Reihe weiterer brutaler Ereignisse führt, nur schmerzhafte Erkenntnisse hervorzubringen.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Kein Wort wird gesprochen. Es gibt tierische Laute, die den Entzug der dialogischen Sinnebene noch deutlicher hervortreten lassen. Um einen stillen Film handelt es sich bei Moebius, die Lust, das Messer dennoch nicht. Er ist übervoll von Symbolen und Metaphern. Die Zeichen häufen sich an: Der Phallus als strukturelles Element männlicher Dominanz zirkuliert durch den ganzen Film, der mit Verweisen auf die griechische Tragödie und bis hinein in die Tiefen psychoanalytischer Theorie nicht geizt. Und dabei ist das Ganze derart spröde und brutal gefilmt, wie man es von Kim Ki-Duk kennt: Er machte Schmerzfilme, deren aufgeraut-düsterer Realismus sich immer nah am Sturz in die Übertreibung wähnt. 

Und doch muss man darauf hinweisen, dass es auch gute Gründe gibt, Moebius, die Lust, das Messer unerwähnt zu lassen. Wir haben in der Redaktion darüber diskutiert. Noch zu Lebzeiten sah sich Regisseur Kim Ki-Duk massiven Vorwürfen ausgesetzt: Vergewaltigung und Nötigung. Für eine Ohrfeige am Set von Moebius wurde er zu einer Geldstrafe verurteilt. Der Dreh einer ungeplanten Sexszene blieb ohne Folgen. Auf der Berlinale 2018 hat er auf einer Pressekonferenz den Anschein erweckt, als würde er sich intensiv mit #metoo und seinen eigenen Dämonen auseinandersetzen. Die schwerwiegenden Vorwürfe ließen sich nie erhärten. Es stand Aussage gegen Aussage. Wie so oft. 

Unabhängig vom problematischen Verhalten des koreanischen Regisseurs, ist sein Werk eine intensive und beunruhigende Auseinandersetzung mit Gewalt und auch toxischer Männlichkeit. Sie zeigen die Welt nicht, wie wir sie gerne hätten. Aber wir können anhand dieser Ambivalenzen das Verstehen lernen, wie es mitunter zu Gewalt und unheilvollen Identitäten kommt. In meinen Augen ist das ein produktiver Umgang mit dem alten Problem der Trennung von Kunst und Künstler*in. Mit keinem Wort sei Kim Ki-Duk damit aus der Schusslinie genommen. Es ist einfach so, dass uns dieser herausfordernde und sperrige Moebius, die Lust, das Messer ziemlich viel über die Grausamkeit einer männlichen Welt zu erzählen hat.

Sebastian Seidler   

Meinungen