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Kolumnen

Warum Kino? - Von der Abspielstätte zum gesellschaftlichen Ereignis

Ein Beitrag von Urs Spörri

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Das Apollo-Kino im hannoverschen Stadtteil Linden-Nord

„Heute Abend ins Kino?“ Diese Frage stellten sich 2016 fast 5 Millionen Menschen weniger als im Vorjahr. Ein Rückgang um 16 Prozent. Der Kinobesuch steht für die breite Masse der deutschen Bevölkerung nicht (mehr) auf der Liste der gefragten Freizeitbeschäftigungen. Woran liegt es, dass Filmfestivals boomen und das reguläre Kinoerlebnis davon nicht profitieren kann?

Neben Variablen wie der Anzahl der zu erwartenden Publikumsmillionäre, also allen voran Blockbuster und Sequels aus Hollywood, liegt der Schlüssel für Kinobetreiber darin, das Publikum besser verstehen zu lernen. „Denken Sie immer daran: Als Kulturbetrieb konkurrieren Sie auch mit dem Italiener um die Ecke“, bläute der Ludwigsburger Professor für Kulturmanagement Armin Klein uns Studierenden seinerzeit ein. Wer nur einmal pro Woche ausgehe, überlege sich genau: Will ich essen gehen, mich unterhalten können oder zwei Stunden schweigend in einem dunklen Raum sitzen? Die Entscheidung fällt offensichtlich immer deutlicher aus: Über 57 Millionen Bürger der Bundesrepublik schauten sich laut der repräsentativen Studie Kinobesucher 2016 im vergangenen Jahr überhaupt keine Filme im Kino an. Und auch sogenannte „Sleeper“, also Kinorückkehrer nach mindestens zweijähriger vorheriger Abstinenz, waren vom neuerlichen Kinoerlebnis nicht angetan und kamen anschließend nur selten wieder.

Kino. Werden Filme noch dafür gemacht?

Die technische Qualität von Bild und Sound auf der heimischen Couch hat vielerorts zumindest semiprofessionelle Züge angenommen. Und im Zweifel siegt die Bequemlichkeit: Warum soll ich noch ins Kino gehen, wenn ich ein ähnliches Vergnügen zuhause bekommen kann? Hier setzt die zentrale Aufgabe von Kinomachern ein: Wie gelingt es, den Besucher davon zu überzeugen, dass er/sie vom Gang ins Kino einen „Mehrwert“ erwarten kann? Drei Aspekte sollen beleuchtet werden: Das Kino als Ort des Genusses, das kuratierte Kino als Ort der Diskussion sowie das Kino als gesellschaftliches Ereignis.

1) Kino als Ort des Genusses

Das von Dieter Kosslick bei der Berlinale hervorgebrachte Modell des Kulinarischen Kinos, eine Kombination aus Film, Essen und Diskussion, hat in verschiedenen Abwandlungen an regulären Spielorten Einzug gehalten. In Großstädten ansässige Astor Film Lounges verstehen sich als Luxuskinos, die Theaterfeeling verströmen und bei bequemen Sitzen und Teppichboden die Bedienung am Platz im Saal offerieren. „Erleben Sie Kino auf eine genussvolle Art in einer eleganten Atmosphäre“ lautet die Eigenwerbung der Kette. Cocktails und Fingerfood inklusive – nur das Filmprogramm unterscheidet sich bislang nicht von anderen Häusern, hier gäbe es noch Verbesserungspotenzial.

Innovative Programmkinos wie das 2016 eröffnete Wolf in Berlin-Neukölln oder das Frankfurter Kultkino Mal seh’n verfügen über einen angeschlossenen Barbetrieb, der zugleich im Mittelpunkt der Architektur zu stehen scheint – die Kinosäle sind jeweils nur durch den kulinarischen Bereich zu betreten. Entsprechend entsteht eine Wohlfühl-Atmosphäre, die sich maßgeblich von den Popcornhöllen der Multiplex-Kinos und muffig-verstaubten Alt-Programmkinos unterscheidet. Das Publikum verbringt Zeit im Kino, weit über die Dauer der Vorstellung hinaus. Und es genießt, mit allen Sinnen.

Vorbild: Offenbacher Kino-Boom

Einen regelrechten Boom der Off-Kinos erlebt derzeit Offenbach am Main: In Ermangelung eines klassischen Programmkinos belebten gleich zwei Betreiber die cineastische Szene. Überraschenderweise setzen beide auf die Kombination aus virtuellem und analogem Schlemmen. Nicole Werth betreibt den Filmklubb in der stylisch-gemütlichen Atmosphäre einer Künstlerwerkstatt. An den Wänden hängen ihre eigenen Gemälde, man sitzt auf handverlesenen Stühlen und Sofas an Tischen, der 35mm-Projektor rattert und bereits eine Stunde vor jeder Vorführung trifft sich die versammelte Gesellschaft zum exquisiten, vor Ort persönlich gekochten portugiesischen Dinner. Vorträge, Stummfilmerzähler und Konzerte machen aus dem Filmklubb eine künstlerische Kino-Veranstaltungsstätte, die vielleicht sogar deutschlandweit ihresgleichen sucht. Daniel Brettschneider hingegen nutzt in Offenbach einen Fahrradladen für sein Ladenkino, im Saal des Deutschen Ledermuseums können die auf der Leinwand flimmernden Leckerbissen (nachgekocht) auch in Realität verspeist werden und bei seinem Broken Dreams Club verwandelt sich das Kino nach der Vorstellung in eine Disco, in der getanzt werden kann. Zum 30. Jubiläum von Dirty Dancing etwa warb Brettschneider mit dem Slogan: „Einlass 20 Uhr, Beginn 21 Uhr. Knutschen 23 Uhr“. Und entgegen aller Unkenrufe, dass es dafür in Offenbach kein Publikum gebe, werden selbst anspruchsvollste Filmklassiker inzwischen bestens besucht. Es ist die Kombination aus verschiedenen kulturellen und kulinarischen Angeboten, die diese Projekte so erfolgreich und vorbildhaft erscheinen lässt – und tatsächlich stets neue Zielgruppen erschließt.

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(Trailer zu Dirty Dancing)

2) Kuratiertes Kino: Ort des Austauschs und der Diskussion

Eine Grundfrage muss außerdem gestellt werden: Sehen sich Kinobetreiber heute überhaupt noch als „Kuratoren“, die ihr Programm liebevoll zusammenstellen? Oder agieren sie überwiegend als Getriebene von ökonomischen Zwängen? Wurden früher vor allem die Multiplexe von der Einflussnahme der großen Verleiher bestimmt, so hat sich dies auf die Programmkino-Schiene längst übertragen. Wer den nächsten „Arthouse-Blockbuster“ bekommen möchte, muss auch die Nieten des jeweiligen Filmverleihs spielen. Selbst wenn ein lange laufender Film weiterhin vom Publikum nachgefragt wird, muss der Kinobetreiber dem Druck der zahlreichen neustartenden Filme nachgeben – und dadurch sogar finanzielle Einbußen hinnehmen. Die Qualität der Filme entscheidet jedenfalls nicht über die Spieldauer in einem Kino.

Chance: Über Gesehenes sprechen

Auffällig ist auch, dass deutsche Filmemacher über soziale Netzwerke immer wieder aufrufen: Schreibt eurem lokalen Kinobetreiber, dass er den Film in sein Programm aufnehmen soll. Wer wenig Budget hat, fällt bereits den Kinomachern kaum auf – geschweige denn anschließend dem Publikum. Geld für Marketing und Bewerbung gibt es fast bei keinem Film in Deutschland in ausreichendem Maße. Zumal die eingangs zitierte FFA-Studie feststellte, dass vor allem Kinowerbung (Trailer) und Fernsehwerbung nachhaltige Wirkung erzielen. Insofern bleibt die Frage: Warum setzt ein Kinobetreiber nicht stärker auf die Nische, die seinem Publikum gefällt und für die das Kino dann auch einen guten Ruf entwickeln kann? Man wundert sich über den Niedergang der Dokumentarfilmzahlen in Deutschland: Am 1. Juni starteten sechs Dokumentarfilme in 139 Kinos und erreichten dabei insgesamt lediglich 406 (!) Zuschauer, was kürzlich in sozialen Netzwerken heiß diskutiert wurde. Das liegt oftmals stark daran, dass die Dokus zu fragwürdigen Uhrzeiten eingesetzt werden: Nachmittags an Werktagen oder vormittags am Wochenende lassen sich keine großen Besucherzahlen erzielen. Und nach dem Startwochenende verschwinden die Filme wegen Erfolglosigkeit wieder aus dem Programm. Doch es gibt Kinos, die sich den Dokumentarfilm als ihre Nische auserwählt haben und bei denen diese gut besucht sind. Neben den Forderungen nach einem Ende der Sperrfrist für Kleinst-Produktionen (mit Day-and-date-Einsätzen, Einzel-Events an geeigneten Off-Spielstätten und VoD- wie DVD-Vermarktung) sollte aber auch das Kinoabspiel solch kleiner Produktionen überdacht werden. Über Gesehenes sprechen muss hier die Devise lauten. Gerade beim Dokumentarfilm sollten Diskussionsplattformen im Kino geschaffen werden, via Skype oder Google Hangouts können die digital bestens ausgestatteten Kinos den Filmemacher, Experten oder Protagonisten nach der Vorstellung zuschalten, selbst ohne persönlich vor Ort zu sein. Und plötzlich wäre der gewünschte Mehrwert vorhanden: Man bekäme als Besucher im Kino etwas zu sehen und hören, was man auf der heimischen Couch nicht erleben kann. Bonusmaterial live. Und das Kino würde sich ganz nebenbei wieder zum gesellschaftlich relevanten Raum entwickeln, in dem offen und ausführlich diskutiert werden kann. Angeleitet von dem Kinobetreiber als Kurator, zu dem der Besucher Vertrauen aufbauen kann. Und schließlich eines Tages in „sein“ Kino geht, ohne vorher ins Programmheft zu schauen – im Bewusstsein: Mein Kino bringt immer etwas, was ich interessant finde.


(Kommunales Kino im Künstlerhaus KoKi KiK Hannover; Copyright: Bernd Schwabe in Hannover / CC BY-SA 3.0)

3) Kino als gesellschaftliches Ereignis

Mit anderen gemeinsam etwas zu erleben, das ist der dritthäufigste Grund für einen Kinobesuch in Deutschland. Abgeschlagen mit nur 2,2 Prozent wurden Kino-Events wie Previews oder besondere Aktionen genannt, die für den Kauf einer Kinokarte ausschlaggebend waren. Dies muss verwundern, schließlich beeindrucken die 400 Filmfestivals in Deutschland als Kinoevents mit immer neuen Besucherrekorden. Bedeutet dies im Umkehrschluss, dass die bisherigen regulären Kino-Events häufig schlichtweg zu einfallslos oder zu schlecht beworben sind? Die Vermutung liegt nahe.

Idee mit Modellcharakter: „Eine Stadt sieht einen Film“

Doch es gibt Ausnahmen: Das im April zum zweiten Mal durchgeführte Projekt „Eine Stadt sieht einen Film“ in Hamburg beeindruckt auf gleich mehreren Ebenen. Als eine gemeinsame Veranstaltung der Hamburger Arthouse-, Programm- und Offkinos zeigten sechzehn Kinos einen ganzen Tag Lars Jessens Mockumentary über das Comeback der Band Fraktus in einer Kinotour mit vielfältigem Rahmenprogramm – von Fotoausstellungen über eine Bustour zu den Drehorten und einem Hypochonderquiz bis hin zu einem großen Aftershow-Konzert mit den am Film beteiligten Musikern. Im Vorjahr bereits sahen über 2.500 Menschen Sebastian Schippers Absolute Giganten binnen eines Tages in Kinos quer durch die Hansestadt verteilt. Ausverkaufte Säle sorgten für Begeisterung, nicht nur bei den anwesenden Filmemachern.

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(Trailer zu Absolute Giganten)

Entstanden ist ein gesellschaftliches Ereignis, über das man als Kulturinteressierter nicht hinwegsehen kann. Den Organisatoren Manja Malz (Kommunales Kino Metropolis & B-Movie Kino auf St. Pauli) und Chris Poelmann (zeise kinos & Clubkinder e.V.) ist mit „Eine Stadt sieht einen Film“ ein echter Coup gelungen: Viele Besucher kamen an diesem Tag erstmals in das jeweilige Kiezkino – und zeigten sich begeistert von dem Angebot. Für einen Tag stand die Hamburger Kinoszene im Rampenlicht, die Medien berichteten und man wurde in der Stadt wahrgenommen. Durch den konkreten Hamburg-Bezug des jeweils ausgewählten Filmes und ein identitätsstiftendes Konzept („von Hamburgern für Hamburger“) gelang nun bereits zum zweiten Mal ein wahres Fest des Filmes und des Kinos, wie man es sonst selten in Deutschland im regulären Betrieb finden kann. Es ist die Atmosphäre, das exklusive Flair und die Gemeinschaft, die letztendlich auch den Filmen zugutekommt und für die Kinos neue Besucherströme erschließen lässt. Eine Idee mit Modellcharakter auch für andere Städte? Das wäre wünschenswert – denn 2018 feiert etwa der Berlin-Film Lola rennt sein 20-jähriges Jubiläum.

Also: Eventisierung als Allheilmittel?

Der Event-Begriff ist in der deutschen Kinobranche für viele ein Unwort. Doch genau darin liegen für viele Betreiber von Spielstätten mit stetig sinkenden Besucherzahlen große Chancen – sofern die Events stimmig sind. Film und Rahmenprogramm müssen zueinander passen, wie das Hamburger Modellprojekt zeigt. Nur dann kann die Begeisterung auf das große Publikum überschwappen und die Menschen kommen gerne auch nach dem Event im Alltagsbetrieb wieder. Das vergleichbare Projekt „Frankfurt liest ein Buch“, bei dem jährlich an 70 Orten in der hessischen Metropole insgesamt 90 Veranstaltungen zu ein und demselben Buch durchgeführt werden, wurde 2016 gar mit dem BKM-Preis für Kulturelle Bildung ausgezeichnet. In der Begründung hieß es: „Das Frankfurter Lesefest illustriert, wie kreative Literaturvermittlung im Zusammenspiel von nahezu allen öffentlichen Kultureinrichtungen der Stadt und vielen bürgerschaftlich Engagierten eine ungeahnte Breitenwirkung entfalten kann. Jedes Jahr wird ein neues Buch mit einem inhaltlichen Bezug zu Frankfurt ausgewählt, das die thematische Grundlage für einen Dialog zwischen unterschiedlichen kulturellen Gruppen der Stadtgesellschaft bildet. Aspekte lokaler Identität verbinden sich so mit einem neuen gemeinsamen Gesprächsanlass quer durch die Bevölkerung. Das Projekt regt zum Nachahmen an.“

Das Kino als gesellschaftlicher Ort des Diskurses und des Austauschs ist dafür eigentlich noch besser geeignet, mit passenden Filmen als Aufhänger. Dies sollte Kinobetreiber aller Orten zugleich ermutigen, in der Digitalisierung mehr Chancen als Gefahren zu sehen und Diskussionsplattformen in verschiedenen Variationen zu schaffen. Sich den Möglichkeiten der Gegenwart und Zukunft zu stellen, innovativ FÜR ihr Publikum zu denken, sich stets neu zu erfinden und gleichzeitig der Tatsache ins Auge zu sehen, dass sich die meisten Besucher nach der Verbindung aus Essengehen und Kultur sehnen. Das sollten zentrale Aufgaben für Kinomacher heutzutage sein. Denn Kinomachen erfordert Courage und kuratierenden Weitblick, heute vielleicht mehr denn je – damit es auch noch in zwanzig Jahren flächendeckend Programmkinos in Deutschland geben kann.

(Urs Spörri)

Urs Spörri kuratiert und moderiert deutschsprachige Kinoreihen im Deutschen Filmmuseum in Frankfurt/M., vor allem in Kooperation mit der Fachzeitschrift epd film die Filmreihe „Was tut sich — im deutschen Film?“ samt ausführlichen Werkstattgesprächen mit den Filmemachern. Seine regelmäßigen Festivalstationen sind das Filmfest München, der Max-Ophüls-Preis in Saarbrücken, die Berlinale, das Festival des deutschen Films in Ludwigshafen sowie die Hofer Filmtage. Außerdem hat er selbst jahrelang das FILMZ Festival in Mainz in führender Position mitverantwortet.

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