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Friends of Dorothy

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

Judy Garland, Bette Davis, Joan Crawford, Cher, Madonna … Was macht weibliche Stars zu Ikonen queerer Männer?

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Andy Nyman und Renée Zellweger in „Judy“
Andy Nyman und Renée Zellweger in „Judy“

Es ist vermutlich die eindringlichste Sequenz in Rupert Goolds Biopic Judy (2019) über die US-Schauspielerin und -Sängerin Judy Garland: Da sitzt der verblasste Hollywood-Star, verkörpert von Renée Zellweger, im Jahre 1968 im bescheidenen Londoner Apartment des Paares Dan und Stan (Andy Nyman und Daniel Cerqueira) und erfährt von dem Kampf der beiden Männer gegen die Diskriminierung, mit der diese aufgrund ihrer sexuellen Orientierung konfrontiert werden.

Plötzlich entsteht eine Nähe zwischen diesen drei Menschen, die weit darüber hinausgeht, dass zwei der Personen große Fans der dritten sind. Vielmehr zeigt sich, bei allen biografischen Unterschieden zwischen ihnen, eine tiefe Verbindung, die ihren Ursprung in dem Gefühl hat, in dieser Welt nicht frei sein zu dürfen: Teile der eigenen Persönlichkeit, existentielle Sehnsüchte und Bedürfnisse ständig unterdrücken zu müssen – und massiv darunter zu leiden, bis hin zur Selbstaufgabe.

 

Garland, die Schutzpatronin

Dass Judy Garland (1922-1969) schon zu Lebzeiten zu einer Ikone queerer Männer wurde, hat gewiss mehrere Gründe. Da wäre etwa Garlands Schauspielstil, der zur Camp-Rezeption einlädt. In ihren frühen Rollen sei es – so der britische Autor Richard Dyer – ihr übertriebenes (und gescheitertes) Bemühen gewesen, wie ein ordinary girl zu wirken; in der späteren Phase ihrer Kino-Karriere indes ihr Over-the-top-Stil. Beides erfüllt offensichtlich das für eine Camp-Lesart typische Verlangen nach Künstlichkeit. Dyer merkt an, Garlands Erscheinung und Gesten auf der Leinwand eigneten sich perfekt dafür, in drag acts imitiert zu werden.

Die von Garland verkörperte Figur der jugendlichen Dorothy im Fantasy-Musical Der Zauberer von Oz (1939) avancierte gar zum Code unter queeren Männern in den 1950er Jahren: So wurde die Bezeichnung „friend of Dorothy“ als verschleierndes Synonym für „gay“ verwendet – da sich die Protagonistin im Laufe ihrer magischen Reise mit einer Gruppe von Außenseitern (der Vogelscheuche, dem Zinnmann und dem Löwen) anfreundet und alle direkt so akzeptiert, wie sie sind.

Judy Garland in „Der Zauberer von Oz“; Copyright: Warner Home Video
Judy Garland in „Der Zauberer von Oz“; Copyright: Warner Home Video

Aber neben ihrer Film-Persona übt(e) Garland auch als öffentliche Person eine besondere Anziehung auf queere Männer aus – und von dieser erzählt die beschriebene Passage aus Judy. Zeit ihres Lebens litt Garland darunter, Dinge verbergen zu müssen, um in einem System – in ihrem Fall dem US-Filmstudio-System – als funktionierendes Rädchen angesehen zu werden. Ihr Körper wurde durch Medikamente manipuliert und malträtiert, ihre eigene Lebensgeschichte wurde von anderen, mächtigen Leuten diktiert und in der Liebe wurde sie stets enttäuscht. Insbesondere in Zeiten, in denen Homosexualität noch kriminalisiert wurde, bot Garland in ihrem Schmerz, der in ihren späteren Leinwand- und Bühnen-Darbietungen immer exzessiver ausagiert wurde, vor allem für schwule Männer eine Identifikationsfläche.

 

Trauer um Judy

Ob es lediglich ein historischer Zufall war oder ob es doch miteinander in Zusammenhang stand, dass es unmittelbar nach Garlands Beerdigung am 27. Juni 1969 zum Stonewall-Aufstand kam, welcher wiederum zu einem Wendepunkt im Kampf der LGBTQI*-Szene für Gleichbehandlung führte, lässt sich wohl nicht letztgültig beantworten. Die aktivistische Drag Queen Sylvia Rivera äußerte rückblickend: „I guess Judy Garland’s death just really helped us really hit the fan.“ Andere beurteilen die Verbindung eher als eine Zuschreibung von außen, welche dazu gedient haben solle, die Unruhen ins Lächerliche zu ziehen. So oder so hat Garlands Beerdigung Einzug in die LGBTQI*-Geschichte gefunden – als ein Moment kollektiver Trauer, der die Emotionen hochkochen ließ.

Judy Garland in „Ein neuer Stern am Himmel“; Copyright: Warner Home Video
Judy Garland in „Ein neuer Stern am Himmel“; Copyright: Warner Home Video

Selbstverständlich ist Garland bei Weitem nicht der einzige weibliche Star, der als Ikone queerer Männer gilt. Auch bei den Sängerinnen Maria Callas (1923-1977), Hildegard Knef (1925-2002) und Dalida (1933-1987) treffen expressive Bühnenauftritte auf tragische Biografien samt unglücklichem Liebesleben. Die Schriftstellerin Dorothy Parker (1893-1967) sowie die Unterhaltungskünstlerin Joan Rivers (1933-2014) werden derweil für ihren scharfen Witz verehrt – und die oft als Sexsymbole bezeichneten Schauspielerinnen Mae West (1893-1980) und Jean Harlow (1911-1937) für ihre Camp-hafte Überspitzung von Attributen, die in einer heteronormativen Gesellschaft üblicherweise dem Weiblichen zugeordnet und gerade durch besagte Überspitzung als Geschlechter-Performance (und somit als etwas durch und durch Künstliches) sichtbar werden. Nicht zuletzt zählt Greta Garbo (1905-1990) aufgrund ihrer Androgynität zu den großen schwulen Ikonen – etwa dank ihrer Darbietung der Titelfigur im historischen Drama „Königin Christine“ (1933), in dem mit der Geschlechtsidentität sowie mit Cross-Dressing gespielt wird.

 

Die Königin des Dramas

Als „flamboyant gay queen of the dramatic arts“ wurde hingegen die Schauspielerin Bette Davis (1908-1989) von ihrem Biografen Ed Sikov beschrieben. Davis entsprach nicht dem gängigen Schönheitsideal Hollywoods; sie verkörperte oft betont exzentrische Frauen. Als Schlüsselrolle für ihre hohe Bedeutung in queeren Kreisen gilt ihre Rolle im Melodram Opfer einer großen Liebe (1939). Darin ist Davis als hedonistische Erbin Judith zu sehen, die an einem inoperablen Hirntumor leidet. Der sentimentale Stoff hält in seiner Mischung aus Glamour und Leid ideales Camp-Material bereit. Auch darüber hinaus verteidigte Davis ihren Queen-Status im Laufe ihrer Karriere mit reichlich Pathos und extravaganten Kostümen. Camp sehe alles in Anführungszeichen, hat Susan Sontag einst geschrieben – die Existenz werde als das Spielen einer Rolle begriffen, das Leben als Theater.

Bette Davis in „Günstling einer Königin“; Copyright: Warner Home Video
Bette Davis in „Günstling einer Königin“; Copyright: Warner Home Video

Ihre angebliche Erzfeindin Joan Crawford (1905-1977) stand Davis in der mimischen und gestischen Übersteigerung sowie im melodramatischen Leiden in nichts nach – wodurch auch sie zu einer queeren Ikone wurde, unter anderem durch ihre Oscar-prämierte Leistung in Solange ein Herz schlägt (1945). Ähnlich wie bei Garland spielte dabei zunehmend Crawfords öffentliche Persona – ihre Larger-than-life-Aura und ihre Tragik – mit hinein: Der verzweifelte Kampf gegen das Altern, gegen das damit einhergehende Karrieretief und gegen ein toxisches Umfeld verliehen ihr den Status einer Märtyrerin.

Joan Crawford in „Maskierte Herzen“; Copyright: Cohen Media Group
Joan Crawford in „Maskierte Herzen“; Copyright: Cohen Media Group

Die Ära der großen Hollywood-Diven endete gleichzeitig mit dem Studiosystem. In deren Fußstapfen als queere Ikonen traten neben Garlands Tochter Liza Minnelli (*1946) etwa Barbra Streisand (*1942), Gloria Gaynor (*1943), Diana Ross (*1944) und Bette Midler (*1945). Zwei Ehrenplätze im Olymp der queeren Ikonen sicherten sich die Sängerinnen Cher (*1946) und Madonna (*1958). Auch diese beiden Frauen sind dafür bekannt, sich ihren Ruhm hart erkämpft und im Leben etliche Hindernisse überwunden zu haben. Während Cher zudem als eine der ersten Künstlerinnen gilt, die die Drag-Kultur Ende der 1970er Jahre in den Mainstream brachte, qualifizierte sich Madonna nicht zuletzt durch ihre sexpositive Art für ihre Ikonenrolle.

Cher in „Burlesque“; Copyright: Sony Pictures International
Cher in „Burlesque“; Copyright: Sony Pictures International

„They hound people in this world. Anybody who’s different. They can’t stand it. Well, to hell with them“, sagt Garland in Judy zu dem aufgelösten Dan. Es ist der gemeinsame Kampf, der Ikonen wie Garland, Davis und Crawford sowie deren Nachfolgerinnen mit ihren queeren Fans verbindet. Die Zeiten mögen sich (langsam) ändern – aber eine solche Verbindung ist unverbrüchlich.

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