zurück zur Übersicht
Specials

Experimente und Katastrophen – Beziehungsanarchie im Film

Ein Beitrag von Mathis Raabe

Mehr als eine Person zu lieben ging für Filmfiguren selten gut aus. Es mangelt der Filmgeschichte an gelungener Repräsentation für alternative Beziehungskonzepte. Innerhalb der letzten fünf Jahre lässt sich aber eine Trendwende ausmachen.

Meinungen
Filmstill zu Parallele Mütter / Ema / Professor Marston & The Wonder Women
Parallele Mütter / Ema / Professor Marston & The Wonder Women

Das Ende von Pablo Larraíns „Ema“ (2019) sieht aus wie eine Szene aus dem Schöner-Wohnen-Katalog: Ein Mann schüttelt eine Milchflasche für ein Baby, ein Junge liegt auf der Couch und liest, dahinter Pflanzen auf Echtholzmobiliar. Surreal wirkt das, und tatsächlich ist das Gezeigte rar: eine Vater-Vater-Mutter-Mutter-Kind-Familie. Die Werbeästhetik kontrastiert den komplizierten Weg dorthin.

Der Film handelt von den Bemühungen der jungen Tänzerin Ema, ihren Adoptivsohn zurückzubekommen. Dieser wurde von der Adoptionsagentur bei einer anderen Familie untergebracht. Ema beginnt Liebesbeziehungen mit beiden neuen Elternteilen des Jungen, wird von dem Vater sogar schwanger und schläft auch wieder mit ihrem eigenen Ex-Partner. So kommt es, dass am Ende alle Figuren eine Bindung zu Ema entwickelt haben und bereit sind, zu einer Patchwork-Familie zusammenzufinden. Diese geteilte Elternschaft ist eine realutopische Lösung für den Sorgerechtskonflikt, die auf offiziellem Wege nicht erreichbar gewesen wäre. Das markiert der Film auch dadurch, dass eine der Figuren als Scheidungsanwältin tätig ist. Auch die Beziehung zwischen Ema und ihrem Ex-Partner bekommt durch die Neukonstellation noch eine Chance. Die Auflösung des Plots von Ema lässt sich mit dem Begriff „Beziehungsanarchie“ greifen.

Beziehungen ohne Regeln

Die Beziehungsanarchie ist eine Form der ethischen oder einvernehmlichen Non-Monogamie. Die leichte Verklausuliertheit dieser Überbegriffe hilft wohl, dass Außenstehende nicht direkt an Dinge wie eine Mehrehe und oder einen Harem denken, die stark von patriarchaler Unterdrückung geprägt sind. Die Begriffe weisen darauf hin, dass das Einverständnis aller Menschen, die an einem Beziehungscluster beteiligt sind, entscheidend ist. Die bekanntere Form der ethischen Non-Monogamie ist die Polyamorie. Es gibt zwei entscheidende Unterschiede: In der Beziehungsanarchie wird keine Unterscheidung oder Hierarchisierung zwischen verschiedenen Arten von Beziehungen vorgenommen. Ein Freund kann ebenso wichtig sein wie ein romantischer Partner. In diesem Sinne werden auch in romantischen Beziehungen vorgefertigte Regeln abgelehnt. Stattdessen sollen Beziehungen auf Grund der individuellen Bedürfnisse fortlaufend neu organisiert und ausgehandelt werden so wie es in freundschaftlichen Beziehungen bereits üblich ist. Die schwedische Feministin und Vordenkerin der Beziehungsanarchie Andie Nordgren hat ein Short Instructional Manifesto for Relationship Anarchy verfasst. Der erste Satz lautet: „Liebe ist abundant und jede Beziehung ist einzigartig.“

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Studien aus den USA zeigen, dass knapp 5 Prozent der Befragten in einvernehmlichen nicht-monogamen Beziehungen leben. Knapp 11 Prozent gaben sogar an, ihr ideales Beziehungsmodell sei non-monogam und im Laufe des Liebeslebens hatte jede fünfte Person schon einmal ein solches Modell ausprobiert. Non-Monogamie ist also weit verbreitet. Davon ausgehend sind die meisten filmischen Darstellungen erstaunlich konservativ.

Framings von Non-Monogamie

Darstellungen von Non-Monogamie sind fast so alt wie das Kino selbst, denn die „anzügliche“ Beziehungskomödie ist schon lange ein Erfolgsmodell. Dabei ist vor allem das Liebesdreieck ein häufiges Motiv. In den wenigsten Fällen kann man aber von einer ernsthaften Auseinandersetzung mit alternativen Beziehungsmodellen sprechen. Stattdessen stellt die Dreiecksbeziehung in diesen Filmen oft nur einen exotischen Ausflug dar, ein letztes Abenteuer, bevor die monogame Beziehung bekräftigt und die gesellschaftliche Normalität wiederhergestellt wird.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Ernst Lubitsch traute sich schon 1933, ein Dreiergespann mit Happy End zu erzählen. Serenade zu Dritt rutschte gerade noch durch, bevor die Regeln des Hays-Codes griffen, der in den Folgejahren jede nicht im Subtext versteckte Sexualität stark einschränkte. Eine Wiederveröffentlichung 1934 wurde verboten. Dabei besteht der sexuelle Inhalt des Film tatsächlich nur darin, dass die Figuren dem Sex explizit entsagen. Das halten sie für notwendig, damit ihre Konstellation funktionieren kann. Lubitsch schien die Transgression für die Gesellschaft der 1930er Jahre also nicht in der romantischen Dreierbeziehung auszumachen, sondern vor allem in der sexuellen.

Der an den Kinokassen erfolgreichste Film über Non-Monogamie ist Bob & Carol & Ted & Alice von Paul Mazursky, der 1969 knapp 32 Millionen US-Dollar einspielte. Zu diesem Zeitpunkt war der Hays-Code gerade abgeschafft worden. Somit konnten die Themen der Hippie-Bewegung endlich ihren Weg auf die große Leinwand finden. Zwei befreundete Paare experimentieren mit dem Konzept der Offenen Ehe. Daraus folgern sie schließlich, dass es Zeit für eine Liebesnacht zu viert wäre. Bei diesem Versuch erstarren sie jedoch schon nach wenigen Momenten. Dann trennen sich die Paare wieder in der Sortierung, in der sie gekommen waren, nur sehr viel mehr peinlich berührt. Die Komödie gibt vor, die Ideale der Love Generation auf die Probe zu stellen mit vier gutbürgerlichen Versuchsobjekten, die von den Hippies abgegrenzt werden. Dabei kommt heraus, dass Freie Liebe für eine solche Zielgruppe wohl nicht geeignet ist.

Ein zweites häufiges Framing von Non-Monogamie im Kino: Sie führe unweigerlich zu Verletzungen und Katastrophen. Der Off-Erzähler in Truffauts Jules und Jim (1962) stellt zunächst die richtige Frage: „Kann eine Frau aufrichtig zwei Männer lieben?“ Nicht um Experimente geht es hier, sondern darum, dass Liebe nun einmal keine begrenzte Ressource ist (abundant, nach Nordgren) und man als Mensch deshalb in diese Situation geraten kann. Die Beziehungen von Jules, Jim und Catherine entwickeln sich über einen langen Zeitraum um den Ersten Weltkrieg. Jules ist Österreicher, Jim Franzose. Während ihrer Wehrdienste stehen sie auf unterschiedlichen Seiten und haben große Angst, den Freund zu erschießen. Am Ende ist es aber nicht der Krieg, sondern die Liebe, die den Tod bringt. Verletzt, weil Jim es nicht noch einmal mit ihr versuchen will, zieht Catherine zunächst eine Pistole und fährt schließlich Jim und sich selbst mit dem Auto von einer Brücke. Das letzte Bild zeigt den zurückgebliebenen Jules allein auf dem Friedhof.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

In Woody Allens Vicky Cristina Barcelona (2008) finden sich gleich beide Framings. Zwei US-Amerikanerinnen verbringen den Sommer in Katalonien und werden vom Maler Juan Antonio verführt. Zunächst sind Bemühungen um eine ausgewogene Darstellung erkennbar: Juan Antonio kommuniziert seine Intentionen direkt und ehrlich und sucht nicht nur Sex, sondern auch romantische Liebe. Dies steht mit Polyamorie nicht im Widerspruch. Im Gegenteil ist zu sehen, dass Juan Antonios Beziehung mit seiner Ex-Frau, die im Laufe des Films auftritt, im Rahmen einer Poly-Beziehung wieder besser funktioniert. Allen inszeniert das Ganze mit der Leichtigkeit eines Urlaubsvideos, untermalt von pausenlosen Flamenco-Gitarren. Dennoch: Am Ende droht die Katastrophe. Die Ex-Frau wird zur Crazy Ex-Girlfriend-Trope und zieht wie schon Catherine eine Pistole. Vicky und Cristina kehren daraufhin zu ihrem vorherigen Leben in New York zurück. Die beiden Frauen sind bewusst gegensätzlich charakterisiert: Vicky ist eher konservativ und pragmatisch und kehrt zu ihrem Ehemann zurück, Cristina dagegen ist auf einer nie endenden Suche nach der Liebe und sich selbst. Für beide aber war Polyamorie nur eine Phase, eine gefährliche noch dazu, die im wilden Europa zurückbleibt.

Family Affairs

Anna Smith, eine Autorin des Guardian, entdeckt 2017 endlich eine mögliche Trendwende. Auch sie befindet, für gewöhnlich werde Non-Monogamie im Kino als „desaströs“ dargestellt. Der Film Professor Marston & the Wonder Women beinhalte aber die positivste Darstellung, die sie je in einem Mainstream-Film gesehen habe. Der Film handelt von Wonder-Woman-Schöpfer William Marston, zu dem man eine Reihe von Fun Facts referieren kann: Bevor er Comics schrieb, erfand der studierte Psychologe eine frühe Form des Lügendetektors. Außerdem veröffentlichte er feministische Theorie, praktizierte Bondage und lebte mit zwei Frauen in einer polyamoren Beziehung. Der Trick von Regisseurin Angela Robinson ist, dass sie zwischen den Hauptfiguren mehrfach die Perspektive wechselt, sodass mit allen dreien Identifikation stattfindet und ein Beziehungsmodell, das sie alle beinhaltet, den Zuschauenden am Ende wünschenswert erscheint.

Ich will argumentieren, dass Pablo Larraíns zwei Jahre später erschienener Ema ein noch besserer Fortschrittsindikator ist. Larraín entwirft eine Situation, in der das Patchwork-Familienmodell für seine Hauptfigur die beste Lösung ist. Bevor Emas Vorhaben den Zuschauenden klar wird, ist sie als sexpositive Tänzerin inszeniert. Dann zeigt sich aber, dass es nicht nur um den Hedonismus der Freien Liebe geht, sondern auch um ihre gesellschaftliche Notwendigkeit.

Die Idee einer nicht zwingend rechtskräftigen geteilten Elternschaft findet sich auch in Pedro Almodovars Film Parallele Mütter, der 2021 in den deutschen Kinos lief. Janis und die jüngere Ana lernen sich auf der Geburtsstation kennen. Der Vater von Janis’ Baby ist der verheiratete Aturo, mit dem sie eine Affäre hat. Als Anas Baby am plötzlichen Kindstod stirbt (und Janis zudem die Vermutung hegt, die Babys seien vertauscht worden), ziehen die Frauen zusammen, um für das verbliebene Kind zu zweit zu sorgen. Dabei entsteht auch eine Liebesbeziehung. Auch hier wird eine unkonventionelle Lösung gefunden, die sich mit dem Konzept der Beziehungsanarchie greifen lässt: Janis möchte sich vom Erzeuger ihres Kindes lossagen, Ana hat ein Kind verloren. Die Neukonstellation ist eine Win-Win-Situation.

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Hier zeigt sich auch, was das gesellschaftliche Statut der heterosexuellen Monogamie mit dem Patriarchat zu tun hat. Wenn selbstverständlich wäre, dass Unterstützung beim Großziehen eines Kindes auch von anderen Partner*innen kommen kann, wären Mütter von den männlichen Erzeugern weniger abhängig. Wie schon in Ema finden sich auch in Parallele Mütter Verweise auf ein Rechtssystem, das der Lebenspraxis hinterherhinkt. Die Mutter von Janis erinnert in einer Szene daran, dass sie als junge Frau noch vor Gericht gehen musste, um sich scheiden zu lassen.

Es ist nicht bekannt, ob Larraín oder Almodovar das Manifest von Andie Nordgren gelesen haben. Ihre Filme vermitteln eher den Eindruck, dass die darin formulierten Ideen Common Sense werden. Während ein Film wie Professor Marston polyamore Bezieungen normalisiert, gehen Ema und Parallele Mütter darüber hinaus und stellen die Konventionen, denen romantische ebenso wie familiäre Beziehungen unterworfen werden, grundsätzlich in Frage. Es sind beziehungsanarchistische Filme.

Non-monogame Lebensgemeinschaften sind prekär. Sie werden rechtlich nicht anerkannt. Im Gegenteil könnten sie in Sorgerechtsfragen oder auch auf dem Arbeitsmarkt zum Verhängnis werden. Umso besser ist es, wenn der Möglichkeitsraum Kino die gesellschaftlichen Chancen von Non-Monogamie aufzeigt und die Dekonstruktion von Konventionen unterstützt.

Meinungen