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Darling der Woche

Die Magie von Cartoon Saloon

Ein Beitrag von Christian Neffe

Mit seinen bisherigen vier Spielfilmen — im November erscheint Nummer fünf — hat sich das irische Studio Cartoon Saloon als herausragende Spitze des europäischen Animationskinos erwiesen.

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Wolfwalkers / Melodie des Meeres / Das Geheimnis von Kells
Wolfwalkers / Melodie des Meeres / Das Geheimnis von Kells

Rund 55 Animationsfilme werden jährlich in Europa produziert. Aber mal ehrlich: Wie viele davon erreichen eine größere Zuschauerschaft? Während sich besonders Deutschland schwertut, auch nur eine halbwegs vernünftige Animationstechnik auf die Beine zu stellen (siehe Die Olchis aus 2021), können zumindest noch die britischen Shaun das Schaf-Filme verzücken, und auch für ein erwachseneres Publikum angedachte Produktionen wie Flee oder Josep sind beachtenswert. Die glorreichen Zeiten der Asterix- und Tim und Struppi-Filme scheinen jedoch vorbei, und so waren, sind und bleiben Japan und die USA in der Wahrnehmung vieler die großen Bastionen der Animationskunst.

Und doch ist da ein Studio, das — ähnlich wie die Gallier — wacker die Stellung und die europäische Animationskunst nicht nur am Leben hält, sondern gar zu einer stilistischen Speerspitze geworden ist: Cartoon Saloon. Das im irischen Kilkenny beheimatete Studio wurde 1999 gegründet von Tomm Moore, Nora Twomey und Paul Young, alle drei Absolvent*innen des Ballyfermot College. Bis zur Veröffentlichung ihres ersten Spielfilms vergingen geschlagene zehn Jahre, in denen sie sich mit Auftragsproduktionen über Wasser hielten. Dann aber begann die Magie.

Und das im wörtlichen Sinne, denn im Mittelpunkt der sogenannten „Irish Folklore Trilogy“ stehen mystisch-magische Wesen und Begebenheiten, die tief in der irischen Folklore verankert sind. Der Studioerstling Das Geheimnis von Kells dreht sich um die Entstehung des Book of Kells, Irlands wertvollstem Kunst-Nationalschatz; der Zweitling Melodie des Meeres um Selkies, die sowohl die Gestalt von Menschen als auch Robben annehmen können; der aktuellste namens Wolfwalkers um den Mythos der Wolfswandler und mittelalterliche britische Besetzung Irlands.

Das Team erzählt seine Stoffe als Coming-of-Age-Storys, in denen die Hauptfiguren aus ihren bekannten Umgebungen ausbrechen, ihre Umwelt kennenlernen, Vorurteile überwinden, neue Freundschaften knüpfen, gegen ein starres System aufbegehren und charakterlich reifen. Ganz klassisch also, die wahre Magie entsteht jedoch in der Inszenierung. Denn wenn Cartoon Saloon eines meisterhaft beherrscht, dann ist es das Spiel mit Hintergründen, Formen und Perspektive.

Gerade letztere fällt in der übrigen Animationslandschaft aus dem Rahmen: Anstatt auf Tiefe setzt das Studio auf eine flache 2D-Bildgestaltung, nur selten gibt es einen Fluchtpunkt, vielmehr orientiert man sich an Bilderbuchillustrationen und schöpft das darin liegende visuelle Potenzial voll aus. Die Formen, die Elemente, inspiriert von der irischen Kunsttradition, werden zum erzählerischen Mittel: Kreis- und Schneckenformen symbolisieren Natur, Freiheit, Idylle, Harmonie; gerade, rechtwinklige, scharfkantige Formen hingegen Zivilisation, Gefahr, Disharmonie. Das zieht sich bis ins Charakterdesign.

So werden die Hintergründe zu weit mehr als bloßen Kulissen, in denen die Figuren agieren. Sie verkörpern Stimmungen, Ideen, Vorstellungen, sind Landschaften, durch die sich die Charaktere bewegen, ändern ihre Farben und Kompositionen je nach Szene und Atmosphäre, wirken mal erschlagend groß, mal klaustrophobisch eng, mal ex- und mal inkludierend, wie dieses empfehlenswerte Video zeigt:

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Stilistisch ebenfalls in dieser Tradition stehend, inhaltlich allerdings deutlich abweichend ist der dritte Spielfilm des Studios: Nora Twombeys Der Brotverdiener, der sich um ein Mädchen im Taliban-besetzten Kabul dreht, das sich als Junge ausgeben muss, um die Familie zu ernähren. Und das ist dann auch ein solch niederschmetternder Film, wie es die Zusammenfassung erahnen lässt: Das Mädchen sucht nach ihrem entführten Vater, erlebt Verluste in ihrem Umfeld, täglich verschwinden Menschen, wenn sie ins Visier der Taliban geraten. Trost spenden traditionelle Erzählungen, für die er Film den Stil wechselt — ebenfalls in einen, der sich an der Kunst des Landes orientiert, in dem er spielt.

Trotz der Zusammenarbeit mit unter anderem Nickelodeon (Dorg van Dango), Studio Chizo (für Belle) sowie eines Winnie the Puuh-Pitches an Disney hat sich Cartoon Saloon seine Unabhängigkeit bis heute bewahrt. Das kann man nun mit dem Klischee vom irischen Stolz und Trotz begründen — oder aber damit, dass das Team mit seiner bisherigen Strategie einfach sehr gut fährt: anspruchsvolle, für (meist) alle Altersklassen geeignete Zeichentrickfilme zu produzieren, in die unfassbar viel Herzblut für Figuren, Handlung und vor allem einen bewussten Stil geflossen sind.

Die nächste Produktion steht bereits in den Startlöchern: Der Drache meines Vaters, der diesmal auf einem modernen amerikanischen Jugend-Abenteuerbuch basiert, erscheint am 11. November bei Netflix. Hoffentlich erreicht der dann auch ein größeres Publikum als der überragende Wolfwalkers, den Apple in seiner Streaming-Flatrate eingebunkert hat und bis heute nicht auf Blu-ray veröffentlichen will.

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