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In „Flee“ lässt der dänische Dokumentarfilmer Jonas Poher Rasmussen seinen Schulfreund Amin, der in den 90ern aus Afghanistan floh, seine Lebensgeschichte erzählen und inszeniert dies als ergreifenden Animationsfilm.

 

Flee (2021)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Geschichte ein Gesicht geben

Als „Flee“ im Oktober 2021 beim Dok Leipzig seine Deutschlandpremiere feierte, war seine Thematik von erschreckender Aktualität: Zwei Monate zuvor hatten die Taliban Afghanistan erobert, die Bilder tausender Menschen, die sich in Panik am Kabuler Flughafen versammelten, teils an abhebende Flugzeuge klammerten, waren noch im kollektiven Gedächtnis präsent. Nur vergisst dieses Gedächtnis eben auch schnell, wenn anderswo Schreckliches passiert, und inzwischen ist das Leid der afghanischen Bevölkerung bestenfalls eine Fußnote im täglichen Nachrichtengeschehen. „Flee“ könnte dazu beitragen, dies zu ändern.

Allerdings erzählt der neue Dokumentarfilm von Jonas Poher Rasmussen (Searching for Bill) nicht von der letztjährigen Machtübernahme der Taliban (er entstand bereits zwei Jahre zuvor und sollte ursprünglich 2020 in Cannes seine Premiere feiern), sondern der in den 90ern. Oder genauer: deren einschneidenden Auswirkungen auf das Leben von Amin. Der Mittdreißiger lebt inzwischen in Kopenhagen und ist, so beginnt der Film, nun endlich bereit, seine Geschichte zu erzählen.

Dies geschieht in Interviewsituationen, die einer Therapie ähneln, wenn Amin auf der Couch liegt, den Blick zur Decke richtet, die Augen schließt, in seine Erinnerungen eintaucht – und das Publikum mitnimmt. Es braucht einige Zeit und Anläufe, bis Rasmussen, der hier als Interviewer aus dem Off zu hören ist, durch behutsames und wiederholtes Fragen Amins anfängliches Zögern durchbrechen kann. Dann aber entfaltet sich dessen Geschichte langsam und stetig in ihren erschreckenden, ergreifenden Ausmaßen – und wunderschön animierten Bildern.

Um Amins Anonymität zu wahren (der Grund dafür wird am Ende seiner Geschichte ersichtlich) und dessen Erinnerungen zu visualisieren, hat sich Rasmussen entschieden, Flee in Gänze als Animationsfilm zu inszenieren. Dessen Stil mutet mit seinen großen Flächen, klaren Konturen und seiner geringen Farbsättigung klassisch europäisch, heißt: weniger verspielt als amerikanische und japanische Zeichentrickkunst an – was dem Sujet des Films ästhetisch gerecht wird. Denn Amins Geschichte ist eine einer überaus beschwerlichen Flucht.

Nach dem Verschwinden des Vaters in Afghanistan entscheidet sich die Familie, ihr Heimatland zu verlassen, und findet Zuflucht in Russland. Dort schlägt ihnen allerorts Feindlichkeit entgegen, täglich müssen sie fürchten, von den Behörden entdeckt und nach Afghanistan deportiert zu werden. Ihre winzige Wohnung in einem riesigen Häuserblock wird zur gemeinschaftlichen Gefängniszelle – und zum Ort der vergeudeten Lebenszeit und Jugend. Fünf Jahre lang und mindestens einen gescheiterten Fluchtversuch gen Skandinavien dauert es, bis es Amin allein nach Dänemark schafft.

Amin und der Regisseur dieses Films sind alte Schulfreunde, und diese Freundschaft ist in Flee vom Fleck weg spürbar: in den behutsamen Fragen Rasmussens, in seiner empathischen Herangehensweise, in der persönlichen Anteilnahme an Amins Geschichte. Dennoch hält sich der Filmemacher im Hintergrund. Der Fokus liegt auf Amin, dessen Vergangenheit und Gegenwart. Er lebt inzwischen offen homosexuell – Flee beleuchtet auch diesen Teil von Amins Persönlichkeit und schöpft daraus am Ende einen der emotional stärksten Momente der jüngeren Dokumentarfilmgeschichte.

Flee entfernt sich bewusst von der Maxime der dokumentarischen Objektivität zugunsten eines subjektiveren Ansatzes, der die Realität an einigen Stellen deshalb sicher unvollständig, verzerrt oder verfälscht wiedergibt. Genau darin aber liegt auch seine große Stärke: einen Menschen, der in seinem Leben so viel Leid mitansehen und erleben musste, Platz dafür zu geben, seine Geschichte endlich erzählen zu können. Und damit historisch einschneidenden Ereignissen wie der Machtübernahme der Taliban – ob nun 1996 oder 2021 – ein Gesicht zu geben.

Flee (2021)

Im Mittelpunkt steht das wahre Schicksal eines afghanischen Flüchtlings, der unter Angabe falscher Tatsachen Asyl in Europa erhalten und sich in Dänemark erfolgreich ein neues Leben aufgebaut hat. Um seine Vergangenheit zurückzugewinnen und mit sich selbst ins Reine zu kommen, vertraut er seine wahre Lebensgeschichte einem Freund an.

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