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Kolumnen

Allein im Kino: ein Plädoyer

Ein Beitrag von Rajko Burchardt

Es gibt keinen vernünftigen Grund, nicht allein ins Kino zu gehen, allenfalls manch unvernünftigen, es in Begleitung zu tun. Dennoch gilt nicht etwa ein erstes romantisches Treffen, bei dem sich zwei Menschen im Kino nebeneinander sitzend anschweigen statt kennen zu lernen, als unausgesprochen verpönt, sondern das profane Bedürfnis, Filme ganz für sich sehen zu wollen: Wer allein Lichtspielhäuser aufsucht, trägt ein unsichtbares Stigma oder muss fürchten, es angeheftet zu bekommen.

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Die Blicke anderer suggerieren, man sei bemitleidenswert oder habe keine Freunde. Und wenn sie es nicht tun, wird einem im Zweifelsfall schon beigebracht worden sein, es wenigstens von sich aus zu denken.

Die also manchmal (oder oft) ein bisschen doof Guckenden kämen offenbar nicht im Traum auf die Idee, dass jemand eines Films und nicht eines gemeinschaftlichen Rituals zuliebe ins Kino geht. Sie verzichten, es zu tun, wenn sich keine Begleitung auftreiben lässt. Oder stehen mit Freunden uneinig im Foyer herum, weil jeder etwas anderes sehen möchte. Ich mag ihnen diese Angst oder Unlust, allein im Kino zu sitzen, gar nicht nehmen, genauso wie ich ihnen folglich kein ernsthaftes Interesse an Filmen unterstellen würde. Aber das irrationale Unbehagen dürfen sie trotzdem gern für sich behalten.

In der Schulzeit war es für mich leider selbstverständlich, meiner persönlichen Kinobegeisterung eher unpersönlich nachzugehen. Ich habe gelernt, dass es nicht der Rede wert ist, Filme in den eigenen vier Wänden allein zu sehen, aber dass ein komischer Eindruck entsteht, wenn man es im öffentlichen Raum macht. Kinobesuche, die ich nur mir gönnte, konnte ich damals an einer Hand abzählen. Es brauchte gute Gründe, dieses Hobby ohne Gesellschaft zu pflegen, die Absage eines Freundes vielleicht oder weil sich schlicht niemand finden ließ. Auf die Idee, dass ich nicht primär ins Kino wollte, um ein soziales Ritual zu begehen, sondern bestimmte Filme zu sehen, kam ich offenbar nicht.

Seither bin ich oft allein im Kino gewesen, sogar häufiger als in Begleitung. Das hat zum einen mit der Tätigkeit des Kritikers bzw. Nicht-Kritikers zu tun, die für gewöhnlich keinen Anhang in Pressevorführungen erlaubt. Zum anderen mit einem entspannten Verhältnis gegenüber dem Kinobesuch als sozialem Konstrukt. Er kann, aber muss nicht Anlass für gemeinschaftliche Unternehmungen sein. Und er bietet – anders als ein Bar-Besuch mit Freunden, ein Abend im Bowling-Center oder die nächste Familienhochzeit – auch gar keinen geeigneten Rahmen für besondere Geselligkeit: Dass allein ins Kino zu gehen ein unangenehmes Gefühl heraufbeschwört, ist eigentlich unlogisch.

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(The Case For Going to the Movies Alone)

Schließlich sind es Architektur und Benimmregeln der Lichtspielhäuser selbst, die dem Gemeinschaftserlebnis entgegenwirken. Durchnummerierte, fest nach vorn gerichtete Sitze mit Armlehnen begreifen das Publikum als Einzelpersonen, die sich nicht zu nahe kommen sollen. Schilder oder Kinowerbung verweisen auf die Unerwünschtheit störender Gespräche. Und über das Verbot von Gemütlichkeit fördernden Nebenaktivitäten wie Rauchen oder Sex besteht weitgehend Einigkeit. Jeder soll für sich sein und besser auch für sich bleiben, nichts anderes vermitteln Kinos ihren Besuchern. Statt jemanden zu beäugen, der diesen Ort allein aufsucht, könnte man ihn also auch konsequent nennen: Er sitzt allein in einem dunklen Raum, der nichts anderes von ihm erwartet.

Vielleicht geht es im Kino von vornherein darum, das Erlebnis mit unbekannten Menschen zu teilen. Kinobesucher, ob in Begleitung oder allein, begeben sich freiwillig an einen Ort überwiegend fremder Menschen, die sie so weit an sich heran lassen, wie man es ihnen andernorts nie gestatten würde. Das können Menschen sein, zu denen sie in sonstigen Kontexten größtmöglichen Abstand suchen würden, und es ihnen im Kino (ähnlich wie bei Theaterbesuchen oder auf Konzerten) dennoch erlauben, an den eigenen emotionalen Reaktionen teilzuhaben. Kinobesucher lachen, weinen oder langweilen sich mit anderen Kinobesuchern, die sie nicht kennen und vermutlich auch nicht kennen wollen.

Es ist diese Erfahrung, die das Kino überhaupt erst zu einem sozialen Ort macht, und sie ist nicht an eine Begleitung gebunden, sondern durch sie möglicherweise sogar eingeschränkt. Möglich, dass andere Zuschauer oder vielleicht auch schon der Ticketverkäufer („Nur EINE Karte, ja?“) einem allein im Kino aufschlagenden Besucher mitleidige Blicke zuwerfen und ihn als Außenseiter abstempeln. Doch in Wahrheit wird er selbst zum Beobachter, der die Wahrnehmung schärft für manch Absonderliches, das um ihn herum passiert. Wenn Kino Voyeurismus im doppelten Sinne ist, kann es keinen größeren Voyeur als einen auf sich allein gestellten Kinobesucher geben.

Ich habe jedenfalls schon einigen Gesprächen im Kino lauschen dürfen, die mir entgangen wären, hätte ich mich mit einer eigenen Begleitung unterhalten. Von interessant bis hirnverbrannt war alles dabei, Kluges und Altkluges, Lästereien, Flirts, unterhaltsamer Nonsens. Zuletzt gab es eine Gruppe gackernder Kids, die von Saal zu Saal tingelten in der Hoffnung, einen noch nicht für sie freigegebenen Film zu erwischen. Die beiden Mädchen der Gruppe interessierten sich offenbar wenig für die Leinwand, aber umso mehr für den Jungen, der sie begleitete. Ich saß hinter ihnen und wurde nicht zur Kenntnis genommen, weil allein ins Kino zu gehen offenbar auch heißt, unsichtbar zu sein. Gar kein so schlechtes Gefühl.

Moviemento & City Kino OK-Platz 1 & Graben 39 4020 Linz
Copyright: a_kep / CC BY-SA 2.0 / Public Domain via Wikimedia Commons

Ebenfalls kein schlechtes Gefühl ist es, das Kino als persönlichen Zufluchtsort somit noch einmal wesentlich intensiver zu erleben. Ich habe nicht selten das Bedürfnis, im Kino allein und manchmal auch tatsächlich allein gelassen zu sein, weil sich die erholsame Ruhe vor der Wirklichkeit anders genießen lässt, wenn nichts und eben niemand an diese Wirklichkeit erinnert. Kino bedeutet letztlich, eine Komplizenschaft mit der Leinwand einzugehen (mit der Welt, die sie vermittelt oder abzubilden vorgibt), und diese Verbindung zum Film kann von einem solchen Bedürfnis nur profitieren: Es geht um mich und meine Beziehung zu überlebensgroßen Bildern – alles andere verschwindet, wenigstens für zwei Stunden.

Einerseits ist im Kino also jeder Zuschauer allein, ganz egal, ob er diese Verbindung sucht oder kein Interesse an ihr hat, und unabhängig davon, ob er den Saal mit oder ohne Begleitung betritt. Und andererseits ist er es gerade deshalb nicht, weil die Bilder etwas mit ihm anstellen, weil sie Kontakt suchen, weil sie ihn nicht allein lassen wollen. Diese Erfahrung ist einzigartig, vor allem aber ist sie wertvoll. Es gibt keine richtige oder falsche Art, sich ihr zu stellen, sondern nur Menschen mit wenig Selbstvertrauen, deren krude soziale Dogmen sie zu beinträchtigen versuchen. Wer behauptet, allein ins Kino zu gehen sei sonderbar, hat Kino vielleicht einfach nicht verstanden.

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