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Über Film noir - Teil 4: Entwicklung und Abweichung

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Meinungen

Im Rückblick lässt sich der Film noir in verschiedene Phasen einteilen, über deren Abgrenzung – wie bei allem im Noir – diskutiert werden kann. Weitgehend Einigkeit besteht indes darüber, dass die klassische Phase von 1941 bis 1958 oder anders gesagt von The Maltese Falcon bis Touch of Evil besteht. Aber natürlich gibt es sowohl vorher (vgl. Teil 1) als auch hinterher Filme mit Noir-Charakteristika.


(Bild aus Touch of Evil von Orson Welles; Copyright: Koch Media)

Die Filme, die nach der klassischen Phase entstanden sind, könnte man in einem weiten Sinn als Neo-Noir bezeichnen, jedoch ist bspw. Fullers Underworld U.S.A. (1961) eine simple Weiterführung des Film noir, die lediglich nach 1959 entstanden ist. Von daher bietet sich hier eine Unterscheidung zwischen späten Films noirs und Filmen an, die dessen Merkmale ausdrücklich und selbstbewusst aufgreifen, um sie den zeitgenössischen Bedingungen und Idiomen anzupassen. Dazu gehören u.a. Point Blank (1967, John Boorman), The Long Goodbye (1973, Robert Altman), Chinatown (1974, Roman Polanski), Night Moves (1975, Arthur Penn) und Taxi Driver (1976, Martin Scorsese). Taxi Driver radikalisiert bspw. durch die brutale Gewaltdarstellung, die Düsterheit des urbanen Settings, die nihilistische Weltsicht des Anti-Helden und das desillusionierende Ende typische Noir-Elemente, zudem findet Scorsese in der Bildsprache neue subjektivierende Ausdrucksmöglichkeiten. Chinatown funktioniert in vielerlei Hinsicht wie ein Retrofilm – stilistisch in der Betonung räumlicher Enge, der stark zurückgenommenen Farbgebung mit den Beige- und Grau-Tönen, dem schattierten Licht, den vielen close-ups sowie durch die bruchstückhafte narrative Struktur und den Privatdetektiv als Hauptfigur –, andererseits weist der Film aber z.B. durch die Besetzung mit John Huston eine sehr präsente selbstreferentielle Ebene auf. Zudem lassen sich Hinweise auf den Watergate-Skandal (vgl. Naremore 1998), den Vietnam-Krieg (vgl. Gallafant, 1992) und die Unfähigkeit zum Verständnis einer fremd bleibenden Kultur hineinlesen. Der Erfolg von Chinatown hat zudem zu einem erneuerten Interesse am Film noir beigetragen, überdies haben die ästhetischen und narrativen Stilisierungen von Polanskis Film und Taxi Driver großen Einfluss auf die weitere Entwicklung des Noir-Films ausgeübt (vgl. Röwekamp). Die Bezeichnung Neo-Noir wird hier somit auf Filme angewendet, die – mit Ausnahme von Point Blank – ab den 1970er Jahren Noir-Elemente weiterentwickelt oder referenziert haben.


(Bild aus Chinatown von Roman Polanski; Copyright: Universal Pictures)

Die Gemeinsamkeiten dieser Filme finden sich – in Anlehnung an Norbert Grob – im Atmosphärischen, also in „der Stimmung der Vergeblichkeit“ und der Narration, im Stilistischen, also in den Bildkompositionen und der Neigung zur Subjektivität sowie Diskontinuität, im Thematischen, also in der Schicksalshaftigkeit, dem Traumhaften, der Gewalt (vgl. hierzu die Teile 1, 2 und 3) und schließlich im Motivischen, den Antihelden, Femmes fatales und der nächtlichen Großstadt. Diese Merkmale lassen sich in der klassischen Phase und darüber hinaus als Hommage, als Variation, als Zitat und als Erneuerung in Filmen und zunehmend auch in anderen Medientypen finden. Inwiefern dieser zeitübergreifende Aspekt dafür spricht, Film noir als ein Genre zu sehen, wird im sechsten Teil der Reihe diskutiert – zunächst soll die Entwicklung der Motive skizziert werden.

„You’re not too smart. I like that in a man“ — Frauenfiguren im Film noir

Haben im klassischen Hollywoodkino die Frauenfiguren das patriarchale Modell bestätigt, so schwächen die finanziell unabhängigen, sexuell attraktiven Frauen des Film noir sein Fundament (vgl. hierzu ausführlich die Anthologie von E. Ann Kaplan, Women in Film noir). Die Femmes fatales sind überwältigend begehrenswert, betrügerisch und unersättlich, ihre Intelligenz, ihr Einfallsreichtum und ihre Gewissenlosigkeit fügen sich zu einer herausfordernden weiblichen Unabhängigkeit, die dem männlichen Konsens widerspricht, dass Frauen ihre Rollen als Ehefrauen und Mütter zu erfüllen haben. Das Erscheinungsbild der Femme fatale folgt einer klar zu bestimmenden Ikonographie: Sie dominiert den Bildraum, hat langes dunkles oder blondes Haar, das offen getragen wird, und ihre Kleidung zeigt ihre langen Beine. Ihre erotische Anziehungskraft akzentuiert das tödliche Unheil, das mit ihr verbunden ist, sie ist gleichermaßen Objekt der männlichen Begierde (vgl. Teil 3) wie Gefährdung der vorherrschenden männlichen Ordnung.

(Bild aus The Postman Always Rings Twice von Tay Garnett; Copyright: Warner Home Video)

Ihre kulturellen Wurzeln reichen bis in die Bibel und Antike zurück; sie ist zudem ein wesentlicher Bestandteil der hardboiled-Literatur. Daher stammen auf der Leinwand auch ihre einflussreichsten Verkörperungen: Phyllis Dietrichson in Double Indemnity, Helen Grayle in Murder, My Sweet, Elsa Bannister in The Lady from Shanghai und Kathie Moffat in Out of the Past. Oftmals tritt die Femme fatale wie Kitty in The Killers als Nachtclubsängerin auf und lockt wie eine moderne Circe den Helden durch ein Lied in die Falle. Etabliert wird die Femme fatale häufig durch eine Reihe von Spiegeleinstellungen, die auf ihren Narzissmus und Doppelgesichtigkeit verweisen.

Obwohl die Femme fatale in den 1940er Jahren häufig in Films noirs anzutreffen ist, tritt sie im Zuge einer thematischen Veränderung hin zu sozialen Problemen in den 1950er Jahren wesentlich seltener bzw. in einer abgemilderten Form in Erscheinung. Im Neo-Noir hat sie dann ein Comeback. In Body Heat (1981, Lawrence Kasdan) verfängt sich der Anwalt Ned Racine (William Hurt) im hitzegeplagten Süden der USA in der Intrige der schönen Matty Walker (Kathleen Turner). Ihr erster Auftritt lehnt sich ganz an die klassische Ikonographie an: Sie geht auf Ned zu, hat lange blonde Haare, trägt ein weißes Kleid, der Schlitz lässt ihre langen Beine erkennen.


(Bild aus Body Heat von Lawrence Kasdan; Copyright: Warner Home Video)

Body Heat gehört zu den Neo-Noirs, die sich stark an den Originalfilmen orientieren. Regisseur Kasdan versucht, die Stimmung und Atmosphäre des Noir durch den visuellen Stil – Richard H. Klein erweitert das Licht-Schatten-Spiel mit Farben, die auch die Unterschiede zwischen heiß und kalt markieren –, die Jazz-Musik und typische Narrative zu kreieren. Ohnehin ist auffällig, dass die Filme mit einer klar zu erkennenden Femme fatale überwiegend entweder Remakes wie The Postman Always Rings Twice (1981) oder Retro-Noirs wie L.A. Confidential (1997, Curtis Hanson) und The Black Dahlia (2006, Brian de Palma) sind. In Jackie Brown (1997, Quentin Tarantino) gelingt es der von Pam Grier gespielten Titelfigur, die konventionelle Geschlechterordnung umzukehren – und sich als Frau zu erweisen, die sich von männlicher Einfallslosigkeit und Schicksalsergebenheit lossagt. Darüber hinaus lässt sich die Femme fatale auch als Ausgangspunkt der Frauenfiguren sehen, die aus Lust und nicht aufgrund einer Psychose o.ä. morden (Basic Instinct, 1992, Paul Verhoeven).


(Bild aus Basic Instinct von Paul Verhoeven; Copyright: Studiocanal)

Die Femme fatale ist die sichtbarste Repräsentanz von Weiblichkeit im Film noir, ihr Gegenpol ist indes die anständige, unschuldige, gute potentielle Ehefrau, verkörpert von Ann in Out of the Past: Sie hört dem getrieben Helden zu, hat Verständnis und anscheinend die Gabe, ihm alles zu verzeihen. Sie wird in Verbindung mit Tageslicht und Plätzen in der Natur gebracht, gelegentlich hilft sie auch dem Helden (vgl. Teil 2). Komplexer ist hingegen in der klassischen Noir-Phase das „good-bad girl“: eine Frau, die die Sexualität der Femme fatale mit dem Anstand einer potentiellen Ehefrau verbindet. Dazu gehört bspw. Vivian Rutledge in The Big Sleep (1946, Howard Hawks) und Joace Harwood in The Blue Dahlia (1946, George Marshall). Dieser Einfluss ist auch bei Veronica Lake in L.A. Confidential zu spüren: Obwohl sie in Optik und visueller Repräsentation an der gleichnamigen Schauspielerin angelehnt ist, erweist sie sich doch in ihren Gefühlen und ihrem Verhalten als aufrecht.

Der Neo-Noir bringt außerdem zunehmend eine feministische Perspektive in Noir-Rollen. In Tamra Davis‘ Guncrazy (1992), einem Remake von Gun Crazy (1950, Joseph H. Lewis), wird die Perspektive von dem waffenverrückten Jungen auf ein Teenagermädchen (Drew Barrymore) verlagert, das erst seinen Stiefvater tötet und dann mit dem Ex-Häftling Howard (Michael Ironside) auf einen mörderischen Trip geht. Frauen übernehmen die Verhaltensweisen, die im klassischen Film noir Männern zugeschrieben werden: In Blue Steel (1989, Kathryn Bigelow) verliebt sich die Polizistin Megan in den Homme fatal Eugene Hunt. In der Sara-Paretsky-Adaption V.I. Warshawski (1991, Jeff Kanew) geht eine Privatdetektivin auf Verbrecherjagd.

„He’s some kind of a man“- Männer im Film noir

Dominiert wird der Film noir – sowohl vor als auch hinter der Kamera – von Männern. Im klassischen Film noir ist dabei ein neuer Typus von Männlichkeit zu finden: An die Stelle des heroischen, erfolgreichen und selbstbewussten männlichen Helden des Hollywoodkinos treten Charaktere, die vom Existentialismus und Freud beeinflusst sind; sie sind schwach, verwirrt, oftmals beschädigt und haben eine Reihe von psychischen Problemen.

Für den Noir-Helden gibt es keinen moralischen Rahmen mehr, der ihn leiten könnte. Vielmehr gerät selbst ein Durchschnittsmann wie Frank Bigelow (Edmond O’Brien) in D.O.A. (1950, Rudolph Maté) in eine Welt voller korrupter Geschäftsmänner und psychopathischer Killer und muss sterben, weil er einen Verkauf beglaubigt hat und damit ein Verbrechen bezeugen kann.

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(D.O.A. von Rudolph Ma, via archive.org)

Das Schicksal von Frank Bigelow, der eigentlich nur alles richtig machen wollte, zeigt, dass die Lage im Noir aussichtslos ist. Die Korruption ist allgegenwärtig: Geld und Einfluss (The Bribe, 1949; City That Never Sleeps, 1953), Liebeswahn und Psychosen (I Wake Up Screaming, 1941) treiben Polizisten in die Versuchung und den Abgrund, bisweilen verfangen sie sich sogar in dem tödlichen Netz, das sie selbst gesponnen haben (Pushover, 1954; Touch of Evil, 1958, Orson Welles). Deshalb verwischen die Grenzen zwischen Polizist und Gangster bspw. in der Ikonographie des korrupten Quinlan. Einem Helden am nächsten kommen noch die harten Polizisten, die von den Kriminellen, die sie überführen wollen, in die Verdammnis gerissen werden (Where the Sidewalk Ends, Otto Preminger, 1950; The Big Heat, Fritz Lang, 1953).


(Bild aus Where the Sidewalk Ends von Otto Preminger; Copyright: Koch Media)

Im klassischen Film noir ist die Korruption der Polizei ein wichtiges Thema, sie verweist auf gesellschaftliches Übel und den Zusammenbruch der rechtlichen Ordnung. Im Neo-Noir wird der korrupte Cop dann fast zur Norm. In Mike Figgis‘ Internal Affairs (1990) erinnert der Kampf zwischen dem korrupten Polizisten (Richard Gere) und internen Ermittler (Andy Garcia) fast an Touch of Evil, in L.A. Confidential gibt es Korruption in verschiedenen Nuancen und in Training Day (2001, Antoine Fuqua) garantiert sie das Überleben. In Bad Lieutenant (Abel Ferrara, 1992) sind der Drogenkonsum und die Spielsucht der Titelfigur Lt. (Harvey Keitel) außer Kontrolle geraten. Anfangs wird er von Beruf und Familie noch halbwegs aufrechterhalten, doch der Erzählrhythmus des Films wird zunehmend von dem Auf und Ab des High und Down bestimmt, während die Handkamera den Blick subjektiviert und den Zuschauer ins existentielle Chaos reißt. Letztlich scheitert er – wie jeder Noir-Held – an sich selbst.

Gebrochene Helden sind auch die Privatdetektive. Zwar sind sie ehrlich und unbestechlich, aber früher oder später werden sie in eine Ermittlung oder ein Verbrechen verwickelt, deren Düsternis jedes Verständnis überlagert. Der Privatdetektiv versteht die Welt nicht mehr. Vordergründig agiert er als Mittler zwischen der Welt der ‚normalen‘ Bürger und der Verbrecher, tatsächlich aber gibt es oft keine Unterschiede zwischen ihnen. In den Neo-Noirs ist er noch verletzlicher, verlorener und fremder in der Welt. Harry Moseby muss in Night Moves ebenso wie J.J. Gittes in Chinatown erkennen, dass er der verdorbenen Welt nichts mehr entgegenzusetzen hat. Seither ist der Privatdetektiv ein Anachronismus, der in Filmen nur noch selten und dann zumeist in hardboiled- bzw. Noir-Adaptionen wie A Walk Among the Tombstones (2014, Scott Frank, nach Lawrence Block) und Gone Baby Gone (2007, Ben Affleck, nach Dennis Lehane) auftritt.


(Bild aus Chinatown von Roman Polanski; Copyright: Universal Pictures)

Eine weitere große Gruppe der Noir-Helden, die deutlich auf den sozialen Impetus der Filme verweisen, sind die Kriegsveteranen, die nach dem Zweiten Weltkrieg und später dann Korea- sowie Vietnamkrieg ein gesellschaftliches Problem darstellen. In The Blue Dahlia (George Marshall, 1946) gibt es gleich drei desillusionierte Kriegskameraden: Johnny Morrison muss herausfinden, dass seine Frau untreu war, und einer seiner Kameraden glaubt, er könne sie während eines Blackouts getötet haben, den er aufgrund einer Kriegsverletzung hatte. Hier wird deutlich, dass die Männer im Film noir nicht immer an einer unabhängigen Frau, sondern auch an ihren eigenen Wahrnehmungsproblemen scheitern (The Asphalt Jungle, 1950, John Huston; Kiss Me Deadly, 1955, Robert Aldrich).

Die desorientierten Noir-Männer vereint, dass sie sich gegen eine unerwartet undurchschaubare soziale Umwelt behaupten müssen und dabei zum Scheitern verurteilt sind. In Taxi Driver wird Travis Bickle dann auf die von ihm wahrgenommene gesellschaftliche Auflösung mit brutaler Gewalt reagieren. In Devil in a Blue Dress (Carl Franklin, 1995) wird der afroamerikanische Ex-Soldat Easy Rawlins (Denzel Washington) angeheuert, die untergetauchte Freundin eines Politikers zu finden. Die Walter-Mosley-Adaption verbindet Motive und die Kameraarbeit des klassischen Film noir mit den Lebensverhältnissen der afroamerikanischen Bevölkerung im Los Angeles der Nachkriegsjahre – eine Welt, die im klassischen Film noir nicht existent war.


(Bild aus Devil in a Blue Dress von Carl Franklin; Copyright: Sony Pictures Home)

Auf den ‚mean streets’

Obwohl manche Films noirs in kleinen Städten oder dem Land spielen, ist der Haupthandlungsort die Stadt. Schon in den Ursprüngen, im Straßenfilm, im Poetischen Realismus und im Gangsterfilm, wird die Stadt mit Unsicherheit assoziiert, sie repräsentiert die Angst und den Druck des modernen Lebens, das Gefühl der Entfremdung, der Paranoia und Gewalt. In einer Stadt gibt es keine Verbundenheit, sondern bedrohliche Fremde, die keine Loyalitäten kennen. Deshalb scheinen die Protagonisten auf den regennassen Straßen in der Nacht allzu leicht in die Falle zu geraten. Es sind die „mean streets“, die manchmal dunkler als die Nacht erscheinen.


(Bild aus Scarlet Street von Fritz Lang; Copyright: Universal Pictures)

Die Stadt wird als ein urbaner Dschungel gezeigt, ein Labyrinth und eine ewige Falle, „Ort der Verheißung und des Chaos zugleich“ (Norbert Grob, Film noir). Im Film wird die Stadt zum Irrgarten, in dem hinter jeder Ecke eine neue Bedrohung oder ein neuer Konflikt (Scarlet Street, 1945, Fritz Lang; Phantom Lady, 1944, Robert Siodmak; Asphalt Jungle) lauert, zu einem Alptraum, der nicht ergründet werden kann, weil er von Zufall und Glück bestimmt wird. Sie drückt die verwirrenden Zusammenhänge aus, in denen der Protagonist verstrickt ist, ohne sie zu durchschauen.

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(Scarlet Street von Fritz Lang, via archive.org)

Doch die Stadt ist nur ein metaphorischer, sondern auch ein konkreter Ort. Semidokumentarische Noirs wie The Naked City (1948, Jules Dassin) zeichnen sich durch ihre Vor-Ort-Aufnahmen aus, in denen die Eigenheiten der jeweiligen Stadt – in diesem Fall New York City – deutlich werden. Dabei sind New York und Los Angeles Haupthandlungsorte der klassischen Films noirs, im Neo-Noir kommen andere Metropolen, vor allem Miami und Boston (The Departed, 2006, Martin Scorsese), hinzu. Ist die Stadt schon im Film noir ein Alptraum voller Straßen aus nassem Asphalt, wird sie im Neo-Noir zu einem „Moloch aus Beton und Asphalt (…), in dem Nebelschwaden die Straßenschluchten wie ein Pesthauch des Bösen durchziehen.“ (Sellmann, Hollywoods moderner Film noir).

Darüber hinaus erweitert der Neo-Noir die Handlungsorte. Blood Simple (1984, Joel und Ethan Coen) und Red Rock West (1996, John Dahl) bringen Noir-Motive wie Korruption, Betrug und Hass in das ländliche Amerika, Blade Runner (1982, Ridley Scott) in die Zukunft. Zudem zeigt sich in vielen Filmen des Neo-Noir ein Aspekt, der bisher in dieser Reihe kaum berücksichtigt wurde: Obwohl die Kernfilme des Film noir in den USA entstanden sind, war er zu keiner Zeit ein rein amerikanisches Phänomen. Vielmehr gab es schon in den 1940er Jahren Filme aus Frankreich, Großbritannien und anderen Ländern, die zum Noir gehören – und deren Einfluss sich gerade in den Neo-Noirs der vorigen Jahrzehnte zeigen wird.

(Sonja Hartl)

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der KrimiZeit-Bestenliste. Seit sie The Maltese Falcon gesehen hat, ist sie an den Noir verloren. Hoffnungslos.

Den ersten Teil unserer Film-noir-Serie über die Ursprünge und Vorläufer gibt es hier; den zweiten Teil über die Anfangszeit hier; den dritten über Vorbilder und narrative Strukturen hier. Der fünfte Teil wird in einer Woche, am 07. Mai 2016, folgen.

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