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Die Zukunft des Kinos. Oder in Zukunft ohne das Kino? - Teil 1

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Verfolgt man in den letzten Jahren die Feuilletons, die Zeitschriftenbeiträge und Wortmeldungen zahlreicher Regisseure, Filmwissenschaftler, Filmkritiker oder andere Intellektueller über die Zukunft des Kinos, dann glaubt man sich eher auf einer Beerdigung. Der Tod des Kinos ist in den vergangenen zehn Jahren so häufig prognostiziert worden, dass man als Cineast, Cinephiler, Kinobetreiber oder sonst wie mit der Materie Beschäftigter schon gute Nerven und ein großes Maß an Optimismus braucht, um nicht in diese Klagegesänge einzustimmen. Salopp formuliert: Würden wir für jedes Mal, wenn ich einen Artikel oder ein Statement über den Tod des Kinos lese, einen Euro bekommen, müssten wir uns um die Zukunft wenig Sorgen machen. 

Zugleich setzen sich aber diese Aussagen auch fest, die ständige Wiederholung des Geredes vom Tod des Kinos lässt ein Bild entstehen, das sich einem förmlich einbrennt. Und so erfreuen sich Bilder von verlassenen Kinos in den sozialen Netzwerken großer Beliebtheit. Schauen Sie einfach mal auf den diversen Websites mit dem Titel „Abandoned places“ oder „Urban Exploring“ nach: Dort finden Sie unzählige Bilder verfallener Kinos. Diese eindrucksvollen Bilder einstiger Größe und jetzigen Verfalls sind förmlich zu Ikonen einer vergangenen Größe und Bedeutung des Kinos geworden, sie sind Chiffren der Vergänglichkeit. Sie spiegeln den ramponierten Charme des Kintopps wider, sie sind, so sprechen die Bilder zu uns, Boten einer Entwicklung, die scheinbar unaufhaltsam ist. Aber ist dies alles wirklich so aktuell und typisch für unsere Zeit und erzählt nur von der Zukunft und unserer Angst davor?

 

Die Vergangenheit: Der Tod als ständiger Begleiter

Tatsächlich sind die verbalen Todesanzeigen und voreiligen Nachrufe keineswegs so neu, wie man glauben mag. Vielmehr sind diese von Anfang an eine Art Begleiterscheinung zum Aufstieg des Kinos, ein beständiges Memento mori. Im Gegensatz zu anderen Künsten scheint ausgerechnet der letzten von Anfang an der Tod bzw. eine Art Todessehnsucht fest eingeschrieben zu sein. Vielleicht hat ja Jim Morrison, der Sänger der Doors doch recht, wenn er  die Angst vor dem Tod als eigentlichen Reiz des Kino beschreibt: „The appeal of cinema lies in the fear of death.“

Schon der Vater der Brüder Lumière, gemeinhin als Miterfinder des Kinos bekannt, prophezeite der Schöpfung seiner Söhne keinerlei Zukunft: „Junger Mann, diese Erfindung ist nicht zu verkaufen, und für Sie wäre sie der Ruin. Man kann sie einige Zeit als wissenschaftliche Kuriosität ausbeuten, aber davon abgesehen besitzt sie keine kommerzielle Zukunft“, entgegnete er Georges Méliès, als dieser an die Familie herantrat, um einen der neuen Wunderapparate zu erwerben. Wie wir heute wissen, lag Lumière senior mit dieser Einschätzung zumindest damals erheblich daneben. Und zum Glück ließ sich Georges Méliès von dieser Aussage nicht entmutigen. Wer weiß, wie die Filmgeschichte sonst verlaufen wäre. Andererseits erhält angesichts der derzeitigen Krise des Kinos die Aussage neues Gewicht und man muss sich fragen, ob Lumière senior nicht am Ende vielleicht doch recht hatte.

Dies war der erste der vielen Tode, die das Kino im Laufe seiner Geschichte vor sich hatte, eine Totgeburt gewissermaßen, die vielleicht ein wenig aufklären kann, warum wir in einem gerade obsessiven Spannungsverhältnis mit dem Kino leben, dass wir es immer wieder totsagen müssen. André Gaudreault und Philippe Marion haben sich in ihrem überaus lesenswerten Buch The End of Cinema — A Medium in Crisis in the Digital Age einmal die Mühe gemacht, die verschiedenen Todeszeitpunkte und -arten des Kinos minutiös aufzulisten: 

Der Tod Nummer 2 ereignete sich demnach um das Jahr 1907/1908 herum und war eher eine Wiedergeburt. Zuvor hatte das Kino als eigenständige Institution quasi nicht existiert, sondern war nicht viel mehr gewesen als ein neues technisches Gimmick, das als Jahrmarktsattraktion herumgereicht und bestaunt wurde. Allerdings war dieser Phase anscheinend nur eine sehr geringe Lebensdauer beschieden, denn der Tod Nummer 3 (und hier wird es etwas kompliziert) datiert bereits auf das Jahr 1910. Zu diesem Zeitpunkt setzte eine Professionalisierung des Kinos und des Films ein, die quasi industrielle Standards manifestierte und damit die Grundlagen für das schuf, was wir heute als Film- und Kinobranche bezeichnen. Zugegeben, diese ersten frühen Tode sind allenfalls für Filmhistoriker von größerem Interesse und manchmal sind die Trennlinien (in diesem Fall zwischen dem 2. und dem 3. Tod) haarfein und mit bloßem Augen kaum zu unterscheiden.

Über den 4. Tod des Kinos hingegen kann man kaum streiten: Mit der Erfindung des Tonfilms erfand sich das Kino abermals komplett neu und hinterließ dieses Mal tatsächlich einen gewaltigen Grabstein. In den Jahren zwischen 1910 und 1930 (also zwischen dem 3. und dem 4. Tod des Kinos) waren die ersten Meisterwerke des Kinos entstanden, die Filme Charlie Chaplins und Buster Keatons, die ersten Filme von Fritz Lang, Birth of a Nation von David Wark Griffith, die Filme von Friedrich Wilhelm Murnau, Robert Wienes Das Cabinet des Dr. Caligari und wie sie alle heißen. Mit der Einführung des Tonfilms endete ohne Zweifel die erste große Blütezeit des Kinos. Und wer Billy Wilders Sunset Boulevard vor Augen hat, bekommt einen Eindruck von der Verzweiflung, der mancher Stummfilm-Star angesichts des deutlich spürbaren Endes einer Epoche anheimfiel. Dass 2012 ein Film wie The Artist von Michel Hazanavicius gleich fünf Oscars und etliche andere Preise gewann, lässt sich auch folgendermaßen erklären: In der gegenwärtigen Krise des Kinos, die nun auch schon wieder ein paar Jahre andauert, mildert ein nostalgischer Blick zurück auf andere Erschütterungen mit glimpflichem Ausgang die Sorgen zumindest kurzfristig.

Bis zum Tod Nummer 5 sollte es nun wieder eine Weile dauern. Ab Mitte der 1950er Jahre sorgte der Siegeszug des Fernsehens für eine — in der BRD kam erschwerend hinzu, dass das Kino jener Jahre zwischen Heimatfilm, Schlagerschmonzette und Kriegsfilme umher dümpelte und weit davon entfernt war, international mithalten zu können. Eine Entwicklung, der wir immerhin das Entstehen des Autorenfilms verdanken. In den USA, wo die großen Hollywood-Studios durch das Fernsehen in die Krise rutschten, war die Gegenreaktion zunächst eher technikgetrieben: Neue Verfahren wie Cinerama, Todd-AO oder die ersten Experimente mit 3D sollten das Kinoerlebnis auf ein neues Qualitätslevel heben, um das Fernsehen durch technische Überlegenheit auszuhebeln. Eine Taktik, die in fataler Weise an den schon wieder erlahmenden 3D-Boom unserer Tage denken lässt.

Tod Nummer 6 erfolgte laut Gaudreault und Marion durch den Siegeszug des Videorecorders, den 7. Tod starb das Kino durch die Verbreitung der Fernbedienung, eine Datierung, die übrigens von Peter Greenaway stammt: „Cinema is dead. I can give you a date — it died on the 31st of September, 1983, when the zapper or the remote control was introduced to the livings rooms of the world. Bang! That’s the end.“

Überhaupt ist es erstaunlich, wie häufig die Angriffe auf das Kino aus dem Kreise der Filmemacher selbst erfolgen. So berichtet der Drehbuchautor Ben Hecht im Jahre 1951 von einem Gespräch mit dem legendären Produzenten David O.Selznick, bei dem dieser sagte: „Hollywood’s like Egypt. Full of crumbled pyramids. It’ll never come back. It’ll just keep on crumbling until finally the wind blows the last studio prop across the sands. There might have been good movies if there had been no movie industry. Hollywood might have become the center of a new human expression if it hadn’t been grabbed by a little group of bookkeepers and turned into a junk industry.“

Ein Jahr später wurde Guy Debords Hurlements en faveur de Sade uraufgeführt, in dem es heißt „Es gibt keinen Film. Das Kino ist tot. Es kann keinen Film mehr geben. Wenn Sie mögen, können wir aber gerne diskutieren.“

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(Hurlements en faveur de Sade von Guy Debord)

Nach weiteren Grabgesängen dieser Zeit, unter anderem durch François Truffaut und das New American Cinema Group Manifesto, kam es 1962 zum Oberhausener Manifest, das ebenfalls das Kino für tot erklärte — zumindest „Papas Kino“.

Ebenfalls 1962 erschien der erste James-Bond-Film, der wiederum François Truffaut gegenüber Sight & Sound 17 Jahre später zu folgenden Statement verleitete: „the film that marks the beginning of the period of decadence in the cinema … Until then the role of the cinema has been by and large to tell a story in the hope the audience would believe it … For the first time throughout the world mass audiences were exposed to what amounts as a degradation of the art of cinema, a type of cinema which relates neither to life nor the romantic tradition but only to other films and always by sending them up.“ 

Fast zeitgleich proklamierte Roberto Rossellini 1963 „Das Kino ist tot“ — und dreht für den Rest seiner Karriere fast nur noch fürs Fernsehen. Ein Vorgehen, das in jüngster Zeit etwa Steven Soderbergh nachgemacht hat. Im Jahr 1968 beendete Jean-Luc Godard Weekend mit der nicht ganz uneitlen Einblendung „Fin … du cinema“. Was ihn freilich nicht davon abhielt, weiter Filme zu drehen.

Im Jahr 1986 sagte Aki Kaurismäki in einem Interview: „American cinema is dead, the European one is dying — and I am not feeling particularly well either!“ Nun, er ist immer noch aktiv.

Im Jahr 2006 nannte Paul Schrader das Kino in einem Essay für den Film Comment ein „abgehalftertes Pferd“ und ein „Relikt des 20. Jahrhunderts“.
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Man könnte diese Reihe noch ewig fortsetzen und vor allem Godard und Greenaway werden nicht müde, den Tod des Kinos mit fast schon obsessiver Hartnäckigkeit zu predigen.

In der letzten Zeit sind vor allem zwei Regisseure als Kritiker des Kinos in Erscheinung getreten — und sie führen uns auf die Spur des 8. und vorerst letzten Ablebens des Kinos, wobei sie gleich zwei Todesursachen benennen: Der eine dieser prominenten Grabredner, Quentin Tarantino, meldete sich im letzten Jahr im Rahmen des Filmfestivals von Cannes zu Wort: „The fact that now most films are not shown in 35mm means the war is lost. The death of 35mm is the death of cinema.“ Allerdings erlaubte er sich immerhin auch einen Anflug von Optimismus: „I’m hopeful that we’re going through a woozy, romantic period with the ease of digital, and I’m hoping that while this generation is completely hopeless, the next generation will come out and demand the real thing.“

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(Quentin Tarantino bei der Pressekonferenz 2014 in Cannes)

Der zweite namens Steven Soderbergh hielt im Jahre 2013 eine vielbeachtete Rede zur „Lage des Films“, in der er neben der immer stärkeren Fokussierung der Studios auf die Produktion von Tentpole-Releases mit möglichst leicht verständlicher Handlung auch die massiv gestiegenen Marketingkosten und zunehmende Diskrepanz zwischen Filmemachern und Filmproduzenten kritisierte. Die Konsequenz daraus: Soderbergh kündigte an, künftig keine Filme mehr drehen zu wollen. Oder vielleicht doch — aber dann ausschließlich fürs Fernsehen — was ja dann prompt auch geschah. Auf die Frage, was ihn daran reize, sagte er: „Das Serienformat. Es ist das Pendant zum russischen Roman: So viele Details sind möglich, so viel Tiefe. Fernsehen ist der Ort, wo das, was einen Regisseur von anderen Regisseuren unterscheidet, noch gesucht und gefördert wird. Beim Film dagegen ist heute alles von Angst und Skepsis beherrscht. Kein Wunder, wenn man hunderte Millionen einnehmen muss — bei der Wirtschaftslage. Das Publikum aber, das Filme, wie ich sie mache, schätzt, ist längst zum Fernsehen abgewandert.“

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(Steven Soderberghs Rede zur Lage des KInos, gehalten am 27. April 2013 beim San Francisco Film Festival)

Gerade diese beiden letzten Aussagen sind interessant, weil sie den derzeitigen Diskurs rund um das Kino und dessen Zukunft prägen: Die Angst vor den Veränderungen durch den Siegeszug des Digitalen und die Konkurrenz durch das Fernsehen und die Serienformate.

Der 8. und vorerst letzte Tod dauert nun schon einige Jahre an. Und während alle bisherigen Ableben doch immer wieder in eine mehr oder minder glorreiche Wiederauferstehung mündeten, so sind wir uns dieses Mal nicht so sicher, wohin die Reise gehen wird. Durch die Digitalisierung und damit Entmaterialisierung des Films steht das Kino vor seiner bisher größten Herausforderung — und obgleich der Prozess noch nicht abgeschlossen ist, spüren wir die Folgen schon heute. 

(Der hier vorliegende Text, der in den kommenden Tagen fortgesetzt wird, ist der erste Teil eines Vortrags, den Joachim Kurz beim 30. Filmsymposium „Zuschauer(t)räume“ im Mannheimer Cinema Quadrat hielt)

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