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Cannes

Lieben, Sterben und Kamera - Die Kurzfilme der Semaine de la Critique

Ein Beitrag von Patrick Holzapfel

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Vom 20. bis zum 27. Mai 2016 kann man auf Festivalscope Kurzfilme aus Cannes sehen. Es handelt sich um die Selektion der Semaine de la Critique, die sich seit den 1960er Jahren jungen Filmemachern und Debüts verschreibt. Dort soll der Wind des Kinos von morgen wehen – und das gilt natürlich besonders für die Sektion mit mittellangen und kurzen Filmen.

Das Niveau der ausgewählten Filme variiert ziemlich stark und man hat nicht unbedingt das Gefühl, dass hier bessere Kurzfilme laufen als auf anderen Festivals. Was man den Filmen dennoch nicht absprechen kann, sind die Versprechen, die sie in sich tragen. Es sind größtenteils mutige und – trotz einer gewissen eingebürgerten Festivalgrammatik – singuläre Arbeiten. Zudem offenbaren sich klare thematische Stränge, die auch in der Kombination der Filme Sinn stiften. Umschreiben könnte man diesen roten Faden mit dem Begriff des Dazwischen oder „Lieben, Sterben und Kamera“.

In einem der Highlights unter den Kurzfilmen, Diary of a Wedding Photographer von Nadav Lapid, der in den vergangenen Jahren bereits mit seinem Policeman und The Kindergarten Teacher überzeugen konnte, sagt der Protagonist: „Hochzeiten zu filmen ist wie Beerdigungen zu filmen. Bei den einen beerdigt man die Lebenden, bei den anderen beerdigt man die Toten.“ Es ist ein Satz, der wie vieles in diesem Film nachhallt, der mit einer merkwürdigen und heftigen Dynamik zwischen Emanzipation und Sexismus, Filmtheorie und Sehnsucht ein Feuer gegen das Konzept der Heirat entfacht. Es geht um einen Hochzeitsfilmer, der in einer abstrakten Szenerie an einem Strand eine Frau vor den Augen ihres Mannes entführt, eine andere zusammen mit ihrem Mann tötet und schließlich zurück zu seiner eigenen Frau kehrt. Eine Hochzeit, so sagt er, sei nur die Braut und ihr Fotograf. In einer Szene streichelt der Mann mit seiner Kamera über das Gesicht der Frau, die er lieben will. Lapid stellt damit ganz neue Fragen an das „Liebe machen“ mit der Kamera, an den männlichen Blick durch diese Kamera. Es ist tatsächlich eine sarkastische und dennoch liebende Beerdigung von Liebe und Filme machen. Am Ende, so scheint es, ist die Sehnsucht, die unter alldem schlummert, nur sexueller Natur. In den Dekadrierungen, die man in vielen der Kurzfilme entdecken kann, zeigt sich jedoch so etwas wie eine Bewegung, ein Hunger nach Leben. Dieser Hunger geht so weit, dass er den eigenen Tod nicht akzeptieren will.

In mehreren Filmen gibt es Tote, die leben, und Lebende, die bereits gestorben sind. Es sind Zwischenstationen, und die diversen Schauspieler und Filmemacher, die ebenfalls als Protagonisten durch die Filme laufen, leben in genau der gleichen Zwischenwelt, jener zwischen Fiktion und Realität. Was Lapid auch zeigt, ist die Fiktion der Liebe. Das kurze Glück vor einem Objektiv festgehalten als ewige Lüge. Viele der Figuren erinnern an den Schläfer von Arthur Rimbaud. Schlafen sie oder sterben sie? Sind sie bereits tot oder ist alles nur ein Spiel, eine Fiktion, ein Traum? In Le soldat vierge von Erwan Le Duc strauchelt ein sterbender Soldat durch einen schwülen Dschungel. Er ist auf der Suche nach Sex, er will nicht als Jungfrau sterben. Dabei wird er beobachtet, wie alle in diesen Filmen immerzu beobachtet werden. Es sind Dead-Man-Vibes, die man in dieser spirituellen Reise spüren kann. Ähnliches lässt sich für den herausragenden Beitrag der Reihe sagen: Campo de víboras von Cristèle Alves Meira. In diesem existiert der Tod in vielen Verkleidungen. Es gibt Schlangen und eine geisterhafte Figur, die der Protagonistin nachts durch den Ort folgt.

Überhaupt lässt sich feststellen, dass Metaphysik wieder groß im Kommen ist bei den ausgewählten jungen Filmemachern. Man spürt das Echo von Andrei Tarkovsky und – auch wenn der eine oder andere dabei etwas unbeholfen nach Größe schielt – auch einen großen Glauben an die Kraft des Kinos. Das gilt zum Beispiel auch für den portugiesischen Film Ascensão von Pedro Peralta. Dessen Titel allein verspricht eine Katharsis, und wie sexy katholischer Mystizismus ist, zeigt er in nebligen und aus einer anderen Zeit stammenden Bildern von einem Brunnen aus dem schweigend ein junger Mann gehoben wird. Nicht tot, nicht lebendig, erwacht er in den Armen seiner Mutter. Die Gesichter der Männer, die ihn aus dem Brunnen zogen, betrachten ihn, während die Natur am frühen Morgen wachgeküsst wird. Es ist ein Plädoyer für die Wiedergeburt, aber es ist auch die vernichtende Beschreibung einer Unumgänglichkeit, nämlich jener des Kreislaufs der Natur.

Limbo, ein unausgegorener, hochstilisierter Beitrag von Konstantina Kotzamani, nimmt diese Existenz zwischen Leben und Tod viel wörtlicher. Am Anfang des Films über eine Horde Kinder, die mit einem vielleicht toten, vielleicht lebendigen jungen Albino konfrontiert werden, stehen Übersetzungen von Limbo (dt. Schwebezustand, Limbus). Eine davon ist der Seelenhort für ungetaufte Kinder, die andere der Ort der Unsicherheit zwischen Leben und Tod. Das Limbo des Kinos findet sich häufig auf der Oberfläche des Wassers: verlockend, anziehend, gefährlich, nicht einschätzbar. Es liegt ganz still, wenn sich alles bewegt, und es bewegt sich, wenn alles still scheint. Die Filmemacher filmen viel am und durch das Wasser. Es ist auch der Versuch, der Abgestorbenheit digitaler Bilder mit dem Leben der Natur entgegenzuwirken. Außerdem hört man viele Töne aus dem Off, die Welt der Filme wird angereichert mit etwas Unwirklichen, etwas Größerem. Das gilt auch für Water Steps von César Augusto Acevedo, dessen berührender Debütfilm La tierra y la sombra trotz seiner Camera d‘Or 2015 nicht die Würdigung erhält, die er verdient hätte. Wie in Ascensão herrscht hier eine große Unsicherheit über Leben und Tod. Statt wie bei Lapid die Lebenden zu beerdigen, weiß man hier nicht, ob ein Lebender beerdigt wird oder ein Toter wiederbelebt wird. Zwei alte Männer entdecken eine Leiche im Fluss. Sie entscheiden sich, diese zu begraben, aber immer wieder sieht man die Leiche blinzeln. Es öffnen sich viele Spielräume, vieles hängt aber am Boden, der Natur. Dort liegt das Tote und Lebendige näher zusammen als in der Zivilisation. Die Grenzen zwischen den Ebenen werden oft durch Rituale überschritten. Diese können misslingen wie in Bonne Figure von Sandrine Kiberlain, in dem Chiara Mastroianni zunächst in einem Kleid erstrahlt und einen Preis als Schauspielerin gewinnt, dieses Kleid dann am Abend nicht aufbekommt, weil der Reißverschluss klemmt und ihr niemand helfen kann. Oder sie gelingen wie im Fall der Brunnenbeschwörung in Ascensão oder den Flussmenschen in Water Steps.

In diesen Zwischenräumen forschen viele der Filme nach Subjektivität. Immer wieder gibt es extreme Nahaufnahmen von Augen, als wollten die Filmemacher sagen, dass alles nur ein Blick ist, alles nur die Wahrnehmung von Individuen. So auch in Delusion is Redemption to Those in Distress von Fellipe Fernandes, ein äußerst schablonenhaftes Sozialdrama über eine Mutter, die mitten in der Nacht umziehen muss. Stress und Müdigkeit, die sich hier in einer Dardenne-Logik entfalten, werden letztlich nur dann wirklich greifbar, wenn die Kamera sich der Figur und ihrer Subjektivität tatsächlich nähert. Ähnliches gilt für Arnie von Rina B. Tsou, ein Film über einen jungen Mann, der auf einem Schiff anheuert und seine philippinische Heimat verlässt.Es gibt unfassbar wenig Totalen in den Filmen. Stattdessen wird alles in Fragmenten bebildert. Die Nahaufnahmen der Augen erzählen von der Seele dahinter. Es gibt Angst und Verlangen, es gibt aber auch Pathos und Einsamkeit. Die Filme zeigen an, dass ihr spiritueller Surrealismus auch aus den Köpfen der Figuren stammt. Der Limbo, den wir sehen, ist auch eine Wahrnehmung. Wie bei Rimbaud ist es vielleicht die Trance des Sterbens oder sexueller Lust. Kaum einem Film gelingt es, diese Spannungen durchgehend zu vermitteln. Viel eher blitzen sie gelegentlich auf. Vielen Filmen hätte ein wenig mehr Distanz hier und da auch gutgetan. Man hat das Gefühl, dass sich die Arbeiten allesamt auf die Idee der Erfahrung geeinigt haben. Andere Aspekte der Kameraarbeit wie die Beobachtung oder die Politik kommen dabei sehr kurz. Das gilt auch für den hochstilisierten En Moi von Laetitia Casta. Die als Model und Schauspielerin bekannte Filmemacherin erforscht dort die Spannungen zwischen einem Filmemacher in der Krise und Frauen. Dabei wirft sie einen deutlich  forcierteren Blick als Fellini in seinem 8 1/2 auf Nacktheit und die Rolle der Frauen. Leider verkommt das alles zu einer erotischen Stilübung mit vielen lasziven Kamerablicken. Das liegt auch daran, dass auch Casta den Limbo als subjektive Wahrnehmung begreift. Unscharfe Ränder des Bildes, plötzliche Wechsel, man fragt sich, ob es der Stress der Figur ist oder die verlorene Inspiration. Jedenfalls vermischen sich auch hier Film im Film und Leben im Film.

In Oh, what a wonderful feeling von François Jaros Zeitlupen von der letzten Nacht einer Prostituierten zu sehen. Eine Unsicherheit herrscht hier, als würde man in ein schwarzes Loch gehen. Es ist eigentlich ein Musikvideo, aber trotzdem passt diese Stilisierung wunderbar zum Limbo des Programms. Am vielschichtigsten gelingt die Gratwanderung zwischen Zwischenwelt und Stilisierung vielleicht der ungarischen Animationsfilmerin Luca Tóth mit ihrem Parallelreich Superbia. Dort zerfließen in Francis-Bacon-artigen Verformungen eigentlich an Disney und japanische Kunst erinnernde Figuren zwischen ihren Geschlechtern. Flüssigkeiten fließen aus allen Löchern, es gibt Blut, Milch, Urin, Sperma und vieles, was man nicht erkennen kann. Riesige Brüste auf männlichen Körpern, raufende Frauen im Schlamm. Es ist ein Film über die Einsamkeit des Anderen und die Angst vor dem Anderen, die der Lust folgt. Hier ist das Geschlecht ein Dazwischen, ein Zustand, eine Beerdigung und Geburt.

Ebenfalls nahe an der Sexualität, aber vermischt mit einer sozialen Not wirkt In the Year of the Monkey von Wregas Bhanuteja wie eine Metapher auf das Kino. Eine Frau braucht Geld, deshalb lässt sie gegen Bezahlung einen Arbeitskollegen ihre Vagina ansehen. Er bietet ihr mehr Geld an, damit sie auch seinen Penis ansieht. Es ist ein pubertäres Spiel des Mannes, aber die Frau braucht das Geld für ihr Kind, das sie alleine großziehen muss. Man hat zwar schon viele Filme gesehen, in denen es um diese Art der Prostitution geht, aber das kindlich-pubertäre, ja, unschuldige Element dieses Spiels mit Vagina und Penis ist dann doch ein spannender Ansatzpunkt. Leider läuft der Film als einer der wenigen auf eine Pointe hinaus, was ihn etwas arg konstruiert erscheinen lässt. Das Geschlecht ist hier wie in En Moi keine Geburt, sondern ein Verkaufsargument.

Um eine solche Geburt geht es auch in L‘Enfance d‘un Chef von Antoine de Bary. Wieder geht es um einen Schauspieler, wieder geht es dabei auch um Einsamkeit. Als würde man aus diesen aufregenden Fiktionen und Zwischenzuständen fallen und merken, dass das Leben viel weniger ist als das Sterben. Doch diese Einsamkeit ist eingebettet in eine durchaus gelungene, weil sehr dichte Komödie, in der American-Indie-Tendenzen auf französische Dialoge (was auch immer das heißt …) treffen. Letztlich bleibt das Dazwischen meist eine verlockende Idee. Ein Augenblick, in dem etwas anderes möglich wird. Eine Flucht, eine Wiedergeburt, ein Kuss. Und ein Film. Manche der Figuren fallen aus dem Limbo heraus in ihre Einsamkeit oder ihren Tod. Andere erheben sich. Wieder andere werden einfach von der Kamera verlassen. Die Kamera versucht, ein Teil der Körper zu werden. Sie versucht, in die Körper einzudringen, die Körper umzubringen und auferstehen zu lassen.

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