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Marvin ist anders. In der Schule steht der schweigsame Junge mit dem Porzellan-Teint häufig im Abseits. Außerdem wird er aufgrund seiner femininen Art immer häufiger misshandelt. Bald will er nur noch eines: Raus aus diesem Saustall namens „Landleben“, hinauf auf die Bretter, die die Welt bedeuten.

Marvin (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

I am what I am

In Marvins Zuhause gibt es Fritten statt Gurken und der Fernseher läuft in Dauerschleife. Und seine wenig empathischen Eltern können herzlich wenig mit ihrem mittleren Sohnemann anfangen. Zwischen der Tyrannei seines Vaters (Grégory Gadebois), der ihn als Nichtsnutz bezeichnet, und der offen resignativen Ader seiner Mutter (Catherine Salée), die mit ihrem eigenen Dasein offenkundig gar nichts vorhat, ist Marvin (als Schuljunge: Jules Porier / als erwachsener Theaterschauspieler: Finnegan Oldfield) in Anne Fontaines nach ihm benannten Aus- und Aufbruchsdrama von Beginn an ein Außenseiter.

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Und zwar keiner, wie man ihn aus vielen holzschnittartigen Coming-of-Age-Geschichten „Made in USA“ kennt. Die Luxemburgerin Fontaine (Coco Chanel/Tage am Strand) inszeniert ihn vielmehr wie eine barockengelgleiche Figur aus Derek Jarmans wildem Caravaggio-Abenteurer (1986) oder wie Peter Greenaways Luftgeist Ariel in Prosperos Bücher (1991). Seine Gesichtszüge haben etwas Zartes-Weichliches, sein Blick streift nicht selten in die Ferne und was er in seinem Innersten wirklich gerade denken mag, ist in Fontaines wunderbar bruchstückhaft montiertem Selbstfindungstrip (Schnitt: Annette Dutertre) nicht automatisch durchgängig klar. 

Sein direktes Umfeld gleicht keinem postmodernen Meta-Film der späten 1980er und frühen 1990er Jahre, sondern ist völlig desinteressiert am weiteren Werdegang des Rotschopfs mit milchiger Haut, den es eigentlich zum Theater und dadurch schnellstmöglich raus der homophoben Provinz zieht. Denn weder daheim in den schäbigen vier Wänden im Nirgendwo des ostfranzösischen Hinterlands, wo ein überwiegend asozialer Umgangston („Verreckt doch alle!“) gepflegt wird, noch auf dem Schulhof, wo er regelmäßig „Schwuchtel“ gerufen und gegen seinen Willen mit Lippenstift beschmiert oder angespuckt wird, ist es für Marvin länger auszuhalten. 

Einzig manche Stunden im Hallenbad verschaffen ihm etwas persönliche Lust, weil er hier ungestrafter als anderswo auf die attraktiven Leiber älterer Jungs starren darf. Denn obwohl er kurzzeitig sogar erste Petting-Erfahrungen mit einer stürmischen Schulkameradin sammeln kann, ist ihm wie dem Zuschauer in Marvin jederzeit bewusst, dass er homosexuell ist. Zum besonderen Ärger seines Vaters, der Schwulsein ihm gegenüber als „eine Art Geisteskrankheit“ geißelt, die seiner Meinung nach völlig abnorm ist. Immer häufiger muss Marvin in der folgenden Zeit als Punchingball für den Frust des Vaters herhalten, der am liebsten wenig oder gar nicht arbeitet und zu Hause in der Unterhose herumsitzt. Mit dem nächsten Schnaps in Reichweite, versteht sich. 

„Ich will nach Paris“, denkt sich der scheue Junge daher immer öfters, „und nie mehr zurück in diesen familiären Saustall.“ Am liebsten möchte er den Sprung auf das berühmte Theaterinternat in der französischen Hauptstadt schaffen, von dem ihm seine neue Schulleiterin Madame Clément (Catherine Mouchet als harte, aber herzliche Deus ex Machina-Gestalt) beiläufig erzählt hatte. Sie ist eine der wenigen Personen aus Marvins Umgebung, die dem wortkargen Jungen wirklich etwas zutraut und die ihn, soweit ihr das möglich ist, weiter fördern will. 

In Paris angekommen und nach unzähligem Vor- und Zurückspulen auf der imaginären Zeitachse des Films, lernt Marvin, der kurz darauf eine neue Identität annimmt und sich Martin Clément als Künstlername eintragen lässt, schnell die ruhmreiche Theaterbohème der Kulturmetropole kennen – und obendrein seinen ersten richtigen Liebhaber: Roland. Charles Berling spielt diesen deutlich älteren, sehr vermögenden Sugar-Daddy-Typen mit Biss und ausgewiesener Schlitzohrigkeit. 

Denn er ist es auch, der das Landei Marvin in die Pariser Oberklasse einführt und ihn für die Umsetzung seines eigenen Lebens als Tanztheaterstück sogar mit der vielleicht größten französischen Schauspielerin der Gegenwart zusammenbringt: Isabelle Huppert. Diese wiederum spielt sich in wenigen, aber äußerst gelungenen Szenen überaus selbstironisch und fügt so Fontaines musikalisch wie ästhetisch brillanter Queerstory (Bildgestaltung: Ives Angelo) eine weitere sinnhafte Meta-Ebene hinzu. Und wenn dann am Ende Lisa Gerrard mit Sanvean sogar noch ihre wundersam ätherische Gesangskunst zelebriert, schwebt der Zuschauer sowieso schon längst in höheren Sphären – und der Luftgeist Ariel scheint endgültig besonders nahe zu sein.

Marvin (2017)

Martin Clément, der als Marvin Bijou geboren wurde ist entkommen. Er ist einem kleinen Ort irgendwo in der Pampa entkommen. Und seiner Familie und der Tyrannei seines Vaters und der Resignation seiner Mutter. Er ist der Intoleranz entkommen, der Ablehnung und dem Gehänseltwerden, das er ertragen musste, weil er anders ist. Und er hat Freunde gefunden. Erst Madeleine Clément, eine Schulrektorin, die ihn für Theater begeistert und dessen Nachnamen er eines Tages annehmen wird, dann Abel Pinto, der sein Mentor wird. Dieser ermütigt ihn seine Lebensgeschichte auf die Bühne zu bringen. Und dann ist da noch Isabelle Huppert, die ihm die Show produziert und sie zum Leben bringt. Marvin/Martin riskiert alles für diese Show, die viel mehr als nur Erolg bedeutet, denn sie zeigt vor allem eins: seine Selbstwerdung.

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