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Cannes 2024

Postkarten aus Cannes #4: Verwirrung mit Lanthimos / Kontemplation mit Schrader

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Lanthimos bleibt Lanthimos und bricht mit dem gesetzten Arthouse. Verstörende drei Stunden. Schrader hingegen versinkt in der Kontemplation. Auch gut.

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Immerhin darin bleibt sich Yorgos Lanthimos treu: Seine Filme polarisieren, verstören und spalten wie eh und je. Und wer geglaubt hat, dass sich mit „Poor Things“ eine dauerhafte Annäherung an den Arthouse-Mainstream eingestellt hat, sieht sich nach seinem neuesten Werk „Kinds of Kindness“ getäuscht: Der Film ist in einem ähnlichen Ausmaß ein ausgestreckter Mittelfinger  gegenüber den tradierten und vielfach erprobten Erfolgsformeln der gehobenen Erzählkinos wie es David LynchsInland Empire“ war. Doch der Reihe nach.

Wer ist R.M.F.? Ein großes Rätsel macht der Film aus dieser zentralen Frage nicht, denn gleich zu Beginn lernen wir den Mann kennen, nach dem die drei Episoden des fast dreistündigen Filmes benannt sind. Und gleich in der ersten spielt dieser R.M.F. eine wichtige Rolle als Katalysator eines Bruchs zwischen einem Angestellten (Jesse Plemons) und seinem übergriffigen Boss Raymond (Willem Dafoe), der von seinem Untergebenen völligen Gehorsam verlangt. Rigoros ist der Tagesplan von Robert dem unbedingten diktatorischen Willen seines Chefs unterworfen, bis hinein in genaue Vorschriften, was dieser zu essen habe und ob an diesem Tag Sex mit seiner Ehefrau (Hong Chau) erlaubt sei oder nicht. Als Raymond von Robert aber die Inszenierung eines Unfalls mit dem Wagen von R.M.F. verlangt und dieser im ersten Anlauf nicht schwer genug ausfällt, weigert sich der Angestellte aber zum ersten Mal, den Wünschen seines Bosses zu folgen und verliert damit dessen Wohlwollen. Mit immer haarsträubenderen Folgen.

© The Walt Disney Company

Die anderen beiden Episoden, so viel kann man verraten, sind thematisch ähnlich, variieren aber darin, dass die gleichen Schauspieler*innen (neben den genannten sind dies unter anderem Emma Stone, Margaret Qualley, Joe Alwyn, Mamoudou Athie) andere Rollen spielen und R.M.F. zwar bei der Betitelung der Episode eine Rolle spielt, darüber hinaus aber nicht mehr auftaucht. In jeder der drei in sich geschlossenen Geschichten entwirft Lanthimos gemeinsam mit seinem Drehbuchautor Efthimis Filippou eine Welt, die anderen Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens zu folgen scheint, als wir das gewohnt sind. Aber ist das wirklich so oder sind es nicht vielmehr radikale Zuspitzungen der Abhängigkeitsbeziehungen, in denen sich die Menschen sowohl beruflich als auch privat befinden? Ist die Menschheit überhaupt noch in der Lage, die von ihr geschaffene Gesellschaft zu beherrschen?

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In der zweiten Episode, in der die verschwundene Liz (Emma Stone) eines Tages wieder auftaucht, befällt ihren Ehemann, den Polizisten Daniel (Jesse Plemons) den Verdacht, dass die Aufgetauchte nur ein Double sein könne, weil sie sich plötzlich anders verhält. Später wird sie erzählen, dass in der Welt, wo sie sich während ihres Verschwindens aufhielt, Menschen und Hunde die Rollen getauscht hätten und letztere das Sagen hätten. Eine treffende Metapher für das Unbehagen, das Kinds of Kindess immer wieder auf verschiedenen Art und Weise evoziert. In der Welt ist etwas ganz grundsätzlich nicht in Ordnung – und womöglich trifft dies nicht allein auf die fiktionale Filmwelt zu, sondern auch auf unsere sogenannte „reale“.

© The Walt Disney Company

Kinds of Kindness markiert einen Bruch im Schaffen von Yorgos Lanthimos – wie dauerhaft dieser Bruch ist, bleibt abzuwarten. Jedenfalls scheint es so, als bewege er sich nach dem Erfolg von Poor Things wieder zurück zu seinen filmischen Anfängen. Nur sind es eben nicht mehr die gesellschaftspolitischen Verwerfungen seiner Heimat Griechenland, die er verfremdet und satirisch überzeichnet in den Fokus seines Interesses nimmt, sondern die US-amerikanischen oder globalen.

Kinds of Kindness ist harte Kost, zynisch und erbarmungslos, eine Studie über das, was Menschen einander antun und was sie an Demütigung und Unterwerfung zu leisten bereit sind.

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Jacob Elordi als Richard Fife. © Arclight Films

Gegen Kinds of Kindness nimmt sich Paul Schraders neues Werk Oh, Canada vergleichsweise (alters)milde aus, obwohl auch dieser Film von einer Entzauberung handelt. Im Mittelpunkt steht der Filmemacher und Dokumentaristen Richard Fife (in jungen Jahren gespielt von Jacob Elordi, in der Jetztzeit, von der aus der Film in der Zeit zurückspringt, von Richard Gere), der sich politisch gegen den Vietnamkrieg engagiert und schließlich aus Angst vor der Einberufung nach Kanada flieht, um sich der Einberufung zu entziehen. Am Ende seines Lebens, als er bereits schwer vom Krebs gezeichnet ist, wollen seine ehemaligen Filmstudent*innen ein Interview mit ihm drehen, in dessen Verlauf aber die Brüche und Lebenslügen Fifes immer deutlicher zutage treten.

Sorgsam inszeniert und überzeugend gespielt ist Oh, Canada womöglich Schraders persönlichster Film, doch ihm fehlt es an der Sogkraft, die gerade auch seine letzten Werke First Reformed und Master Gardener auszeichnete.

Nun aber schnell weiter, die nächsten Filme stehen schon vor der Tür.

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