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Darling der Woche

Im Bewusstseinsstrom von "Immortality"

Ein Beitrag von Christian Neffe

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Screenshot aus "Immortality"
Screenshot aus "Immortality"

Manche Dinge entdeckt man einfach viel zu spät — was aber nicht bedeutet, dass es für sie zu spät wäre. Vor allem wenn sie derart gut sind, dass man im Anschluss Rede- und Empfehlungsbedarf hat. Jüngstes Beispiel: „Immortality“. Das ist bereits etwas mehr als ein Jahr alt und damit in der schnellebigen Domäne der Videospiele — denn um ein solches handelt es sich hier — im Grunde kalter Kaffee. Doch halt, nicht wegklicken! Denn insbesondere filmaffine Menschen werden hiermit ihre helle Freude haben. 

Denn: Als sogenanntes FMV-Game (Full Motion Video) besteht Immortality ausschließlich aus real gedrehten Szenen, rund zehn Stunden Material stecken drin. Und: den Großteil davon machen drei fast vollständige Filme aus, die extra hierfür gedreht wurden. Genauer: deren einzelne Szenen samt Behind-the-Scenes-Material in der Rohfassung.

Alles beginnt mit einem alten Werbeclip, dem ersten Auftritt von Marissa Marcel (Manon Gage mit einer fantastischer Schauspielleistung, wie überhaupt alle Beteiligten). Von da aus geht nach dem „Matchcut“-Prinzip weiter: Ein Klick auf ein Gesicht, ein Requisit, eine Waffe, ein Objekt im Hintergrund führt zu einem ähnlichen Objekt in einem anderen Clip. Das „Schneidebrett“ wird dadurch immer umfangreicher, wie ein/e Editor*in arbeitet man sich durch das Material, spult vor und zurück, sucht nach neuen Personen, Verbindungen, Bedeutungen. Found Footage als Spiel, als immersiver Bewusstseinsstrom 

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Das anfangs ausgegebene Rätsel und Spielziel — Was ist mit Marissa Marcel, der Hauptdarstellerin der drei Filme, geschehen? — rückt erstmal in den Hintergrund. Denn der eigentliche Reiz besteht anfangs darin, sich die Plots der Filme anhand der unchronologischen Szenen zusammenzureimen. Da ist zum Ersten Ambrosio, ein Spät-60er-Erotik-Historiendrama, ein schmuddeliger, kleiner B-Streifen, inszeniert von einem ehemals großen Arthouse-Regisseur, der an eine Mischung aus Alfred Hitchcock und Harvey Weinstein erinnert. Zum Zweiten Minsky, ein düsterer New-Hollywood-Krimi über einen Mordfall an einem Künstler, dessen Muse zur Hauptverdächtigen wird. Und zum Dritten Two of Everything, ein Spät-90er-Lowbudget-Drama über eine Musikerin, die von einem Multimillionär ein Angebot erhält, das sie nicht ablehnen kann.

All diesen Werken und damit auch dem Spiel selbst ist gemein, dass sie sich mit dem Wert von Kunst auseinandersetzen, mit den Opfern, die zuweilen dafür gebracht werden, mit dem Wert des Erzählens von Geschichten und mit der titelgebenden Unsterblichkeit, die durch sie erreicht werden kann. Und dabei fangen sowohl die Filme selbst als auch das Behind-the-Scenes-Material die visuelle und auditive Ästhetik (allein schon durch die unterschiedlichen Bildformate) ihrer jeweiligen Zeit perfekt ein. Für Ambrosio und Minsky griff das Team rund um Gamedirector Sam Barlow sogar zu alten Linsen, die eine unheimliche Authentizität schaffen. 

„Ambrosio“ trifft den Look der späten 60er perfekt.

Und dann ist da noch die zweite Ebene, das große Geheimnis von Immortality, auf das man irgendwann unweigerlich (und eher zufällig) stößt und das einen WTF-Effekt sondergleichen erzeugt. Es wäre ein Frevel, das zu spoilern, deshalb nur so viel: Es wird ein wenig übernatürlich.

Immortality ist beileibe nicht perfekt, erklärt seine Mechaniken nur unzureichend und verlangt im späteren Verlauf sowohl Geduld als auch Glück, um das Finale zu erreichen, das, je nachdem, nach zwei bis sechs Stunden über den Bildschirm läuft. Das einen aber ob dieser Erfahrung, die man da eben gemacht hat, sprachlos zurücklässt. Ein einzigartiger Hybrid aus Film und Spiel, eine Symbiose aus Form und Inhalt, die man so kein zweites Mal bekommt.

Immortality ist sowohl für PC und Xbox-Konsolen erhältlich als auch im Gaming-Angebot von Netflix verfügbar.

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