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Victor Kossakovsky - Gegensätze, die keine sind

Ein Beitrag von Patrick Holzapfel

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Victor Kossakovsky, dem noch bis zum 1.Februar eine Retrospektive bei Doc Alliance gewidmet ist und dessen The Belovs wir heute in unserem Blog zeigen, ist ein Filmemacher der Gegensätze, die keine sind. Geboren im Jahre 1961 in St. Petersburg (Leningrad), ist er ein Vertreter der Noblesse und Ethik des Kinos, ein Wanderer des Blicks, ein Zauberer der Imagination im Dokumentarischen und ganz sicher ein großer zeitgenössischer Filmemacher. Neben einer klassischen Ausbildung hat er auch zahlreiche Stationen im Leningrader Studiosystem durchlaufen, um sich seit den späten 1980er Jahren, als einer der wichtigsten Stimmen des Dokumentarfilms zu etablieren.


(Victor Kossakovsky, Copyright: DOC ALLIANCE)

Schauen wir also auf die Gegensätze und ihre Verschmelzungen, auf die Doppelgänger und identitätsstiftenden Schatten bei Kossakovsky.

1. Spiegel und Fenster

Immer wieder betont der Filmemacher diese beiden Pole. Der Spiegel als ein Element der Reflexion, der Fiktion und des Erkennens. Das Fenster als Blick in eine Welt, als Realität und als Banalität. Gewissermaßen kann man hierbei auch vom Gegensatz des Persönlichen (Spiegel) und des Universalen (Fenster) sprechen. Diese Gegensätze werden besonders in seinen beiden Filmen Svyato und Tishe! deutlich. In Ersterem beobachtet er seinen Sohn, als dieser sich in einem Spiegel erkennt. Es geht um jenen wichtigen Augenblick des Selbsterkennens für die Psychoanalyse, aber es geht auch um mehr. Svyato ist ein Film über unsere Wahrnehmung der Welt, eine Fantasie über eine Gegenwelt und die zärtliche Betrachtung des eigenen Sohnes, vor dem der Filmemacher tatsächlich über Jahre sämtliche Reflektionen und Spiegelungen versteckt hielt, um diesen Film drehen zu können. Dagegen ist Tishe! ein Film, den Kossakovsky komplett durch das Fenster seiner Wohnung in St.Petersburg gedreht hat. Sein Blick gilt den Geschehnissen unter dem Fenster, der Straße, den Menschen dort, dem Wetter. Aus dieser scheinbaren Banalität vermag er das ganze Kino zu filtern, weil er hinsieht und weil er jede Einstellung und jeden Schnitt mit seiner Wahrnehmung beseelt. Es gibt komödiantische und tragische Augenblicke, abstrakte Formen und konkrete Ereignisse. Dabei treffen sich das Fenster und der Spiegel in seinem Blick, denn in beiden Filmen ist der Filmemacher selbst zu sehen. In Tishe! ist es gar eine Spiegelung im Fenster, die ihn sichtbar macht. Die Illusion wird gebrochen und wird zu einer Reflexion. Einmal mehr wird klar, dass es keine Dokumentation ohne die Fiktion ihres Blicks gibt. Daher ist es auch besonders schön, dass mit Carlos Kleins Where the Condors Fly eine Dokumentation über den Arbeitsprozess von Kossakovsky im Rahmen der Retrospektive zu sehen ist.


(Trailer zu Where the Condors Fly)

2. Das Leben und das Sterben

Im magnetischen ¡Vivan las Antipodas! filmt Kossakovsky Menschen, die auf exakt gegenüberliegenden Stellen auf unserem Globus leben. Dort trifft die (nun wirklich universale) Alltäglichkeit des Lebens und ihre immer zugleich neugierige und wissende Betrachtung auf eine größere Idee und zwar jene, dass auf der exakt gegenüberliegenden Stelle der Welt die Antipoden auf dem Kopf leben. Immer wieder dreht sich die Kamera und hebt ab und das irdische Treiben wird mit einem derartigen Auge für Ästhetik und eine der Natur angeborenen Schönheit gefilmt, dass man ständig das Gefühl einer göttlichen Intervention hat. Das Materielle wird bei Kossakovsky immer wieder vom Geistlichen durchdrungen. Sei es durch die häufige Verwendung eines leichten Echoeffekts unter wichtigen Dialogpassagen, Chormusik, bedeutungsschweren Schwenks zum Himmel oder dem Eingriff des Schicksals in seine Filme. Dies könnte nicht von ungefähr kommen, zeigt Kossakovsky doch in seinen ersten Film Losev einen seiner Mentoren, den spirituellen Philosophen Alexey Fedorovich Losev. Der Film handelt vom Erwachen und vom Sterben zugleich. Er beginnt mit einer sehr langsamen Aufblende, die zur gleichen Zeit eine Verbeugung vor Dziga Vertov ist und das erste Licht einer Sonne, das erste Licht im Kino von Kossakovsky. Es endet mit dem Staub der Erde. Dazwischen hören wir von Losev selbst über sein Konzept des Schicksals, das sich darauf gründet, dass die Wissenschaft niemals den exakten Zeitpunkt des Todes bestimmen kann. Auch in Pavel&Lyalya verbindet der Filmemacher das Sterben mit dem Leben, in diesem Fall der Liebe. Es ist ein Besuch bei seinem Freund, dem Filmemacher Pavel Kogan, der in Jerusalem im Sterbebett liegt und von seiner Frau gepflegt wird. Ein schmerzvoller Film voller Wärme, der von einer traurigen Zweisamkeit am Lebensende erzählt. Wilde Schatten spielen auf den Wänden, das Licht fällt als letztes Zeichen einer anderen Welt durch die Fenster in die Wohnung. Einmal schiebt Lyalya Pavel durch das Treiben der Stadt. Doch dieser will nur nach Hause, nach Leningrad. Hierbei finden sich weitere Antipoden im Kino von Kossakovsky: Heimat und Fremde. Und auch diese beiden Kategorien entspringen denselben Personen, denselben Sehnsüchten und es ist klar, dass Leben und Sterben, Unten und Oben, Heimat und Fremde nur Teil einer zirkulierenden Bewegung sind und eine Frage der Betrachtung. Sie verschmelzen zu einem Bewusstsein für das Leben auf der Erde.


(Trailer zu ¡Vivan las Antipodas!)

3. Das Banale und das Außergewöhnliche

Kossakovsky geht von ganz einfachen Gegebenheiten aus. Er filmt seine Freunde, viele Tiere, seinen Sohn oder seine Straße. Im großartigen The Belovs kann die Protagonistin Anna gar nicht fassen, dass man ausgerechnet ihr Leben filmen würde. Gemeinsam mit ihrem Bruder lebt sie abgeschieden auf einer Farm. Aber in dieser Banalität findet Kossakovsky etwas Außergewöhnliches oder besser: Er findet etwas außergewöhnlich Wahrhaftiges. Selbstverständlich offenbart sich diese Wahrheit ebenfalls in Gegensätzen. Es sind jene zwischen Harmonie und Gewalt sowie Natur und Struktur. Das zerbrechlich schöne Filmmaterial seiner frühen Werke übt eine ganz eigene Kraft aus, die das Banale jederzeit in die außergewöhnlichen Sphären einer filmischen Sprache überführt. Kossakovsky entwickelt Ideen, die in sich ein Experiment darstellen. Er filmt die Antipoden der Erde oder er sucht sämtliche Menschen in St.Petersburg auf, die am selben Tag geboren sind wie er in Wednesday 19.07.1961. Ausgehend davon macht er sich rastlos auf die Suche. Was passiert, wenn mein Kind den Spiegel sehen wird? Welche Menschen werde ich sehen? Was passiert vor meinem Fenster? Diese Fragen sind immer zugleich völlig banal und absolut außergewöhnlich. Kossakovsky scheint in der Lage alles was er sieht, mit Film zu Film zu machen. Damit wird er seinen beiden großen Vorbildern Charlie Chaplin und Andrei Tarkovsky absolut gerecht. Er ist ein Abenteurer, der sich an die Klippen der Menschheit wagt oder einfach nur aus seinem Fenster filmt, ein Weltreisender, der seine Freunde nicht vergisst, ein Suchender, der findet.

4. Poesie und Dokument

Es ist nun wahrlich kein Geheimnis, dass in jedem Dokumentarfilm ein mindestens genauso großes fiktionales Herz schlägt wie in Spielfilmen, aber bei Kossakovsky vereinigen sich die Poesie und das Dokument, die Manipulation und die Zurückhaltung, das Reale und Fantastische zu einer ethischen Gesamthaltung, die das Kino in seiner Relation zur Realität erfahrbar macht, die uns Menschen und Orte näherbringt statt sie von uns zu entfernen. Kossakovsky strukturiert seine Filme, ohne den natürlichen Lauf der Dinge zu unterbrechen. Das liegt auch daran, dass neben dem Gefühl für das Fiktionale im Dokumentarischen auch aus dem Dokumentarischen selbst eine große Poesie gewonnen wird, die schlicht mit der Wahrnehmung des Regisseurs erklärbar ist. So gibt es eine schier unfassbare Fahrt auf einem Fluss mit einem Feuerwerk in The Belovs, einen majestätisch-überirdischen Flug eines Vogels in ¡Vivan las Antipodas! oder ein Kind im Schnee hinter einem Fenster in Tishe!. Mit großer handwerklicher Begabung für Bewegung, Montage, Ton und Musik werden hier Filme konstruiert, die jederzeit eine Beobachtung und Wahrnehmung der echten Welt akzentuieren, befruchten oder zum Schweben bringen. Und dann ist man wirklich geneigt zu sagen: Diese Zärtlichkeit ist unter uns. Wenn man sich mit dem Werk von Kossakovsky beschäftigt, dann wird man sich früher oder später mit allen Dingen befassen müssen, die man sehen und hören kann. Sein Kino ist eine Schule der Wahrnehmung und eine Erinnerung daran, wie reich ein Blick ein kann, wie magisch und grausam das Leben vielleicht sogar vor unseren Augen in diesem Moment abläuft, wie es fließt, wie es Formen und Verbindungen findet und kreiert. Kossakovsky lehrt uns hinzusehen statt in uns selbst zu verweilen, den Dingen mit Neugier zu begegnen statt sie zu verurteilen, sie zu lieben statt sie zu ignorieren. Wenn man einen Film von ihm gesehen hat, dann sieht man die Welt (mit anderen Augen).

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