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Jahresrückblick - Filmische Trüffel: Bohnenstange

Ein Beitrag von Katrin Doerksen

2020 nähert sich seinem Ende. Man möchte sagen: zum Glück. Für niemanden, auch nicht für Kinofreunde, war es ein leichtes Jahr. Wir lassen es dennoch aus cineastischer Sicht Revue passieren. Heute mit Kantemir Balagovs Bohnenstange.

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"Bohnenstange" von Kantemir Balagov
"Bohnenstange" von Kantemir Balagov

Kinoschließungen und -startverschiebungen, kurzfristige Veröffentlichungen auf DVD und Streaming-Plattformen — das ein oder andere filmische Highlight konnte da schon mal etwas untergehen. In unserem Jahresrückblick 2020 heben wir deshalb unter anderem filmische Highlights hervor, die man leicht hätte verpassen können. Heute mit Kantemir Balagovs Bohnenstange.

Kantemir Balagov ist erst 29 Jahre alt, hat sich aber mit seinen ersten beiden Spielfilmen (sein Langfilmdebüt Closeness stammt aus dem Jahre 2017) umstandslos einen Ruf als Russlands interessantester Nachwuchsregisseur erarbeitet. Sein bisheriges Meisterwerk ist Bohnenstange, 2019 in Cannes mit dem FIPRESCI-Preis sowohl als für die Beste Regie der Sektion Un Certain Regard ausgezeichnet.

Bohnenstange heißt eigentlich Iya (Viktoria Miroshnichenko) — ihren Spitznamen trägt sie, weil sie mit ihrer Größe alle überragt. Sie arbeitet in einer Klinik für Kriegsversehrte und leidet seit einer Gehirnerschütterung immer wieder unter plötzlich einsetzenden katatonischen Anfällen, während derer sie sich nicht bewegen oder äußern kann. In ihr manifestiert sich die Schockstarre der ganzen Stadt: Das ausgehungerte Leningrad am Ende des Zweiten Weltkriegs nach einer Ewigkeit unter deutscher Belagerung. Hier hat Iya in den letzten Monaten den an der Front geborenen Sohn ihrer Freundin Masha (Vasilisa Perelygina) durchgebracht. Doch kurz bevor seine Mutter nach Hause zurückkehrt, geschieht ein schreckliches Unglück.

Bohnenstange ist inspiriert von Swetlana Alexijewitschs dokumentarischem Roman Der Krieg hat kein weibliches Gesicht. Er ist also ein Kriegsfilm - aber weil seine Geschichte genau genommen erst nach dem Krieg einsetzt, verlagert er die Kampfhandlungen vom Schlachtfeld in die halböffentlichen und privaten Innenräume. In reichem Tannengrün, Blutrot und Gasfunzelgelb inszeniert Balagov die viel zu engen Radien, auf die das Leben von Iya und Masha zusammenschrumpft: Ein winziges Zimmer mit einer Gemeinschaftsküche für die ganze Etage, vollgestopfte Straßenbahnwaggons, die Klinikbetten, in denen direkt nebeneinander untersucht und therapiert, Wiedersehen gefeiert, geliebt und gestorben wird.

Balagov interessiert sich für Thesen und Appelle ebensowenig wie für die Front. Offiziell mag der Krieg vorbei sein, doch seine Figuren stehen am untersten Ende der Maslowschen Bedürfnispyramide; wenn sie sprechen, dann kreisen sie um das Existenzielle, um ihr Weiterleben — oder gerade um das nicht mehr weiterleben wollen. Woher der Regisseur die Reife nimmt, um so treffend, so sensibel und weise von diesen Dimensionen des Leidens zu erzählen, bleibt sein Geheimnis.

Bohnenstange wird derzeit vom Filmfestival Cottbus als Stream bereitgestellt.

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