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Jahresrückblick

Hin- und hergeworfen zwischen den Zeiten

Ein Beitrag von Verena Schmöller

Unwissend in einen Film zu gehen, ist als Filmkritikerin gar nicht so einfach. Verena Schmöller schreibt in ihrem Jahresrückblick darüber, warum es sich aber immer wieder lohnt.

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Transit - Bild
Transit - Bild

Auf Festivals, aber auch vor einem normalen Kinobesuch versuche ich, möglichst wenig über die Filme zu lesen, die ich mir anschauen werde, besonders dann, wenn sie von einem Filmemacher sind, der mich begeistert oder dessen Schaffen ich gut kenne. Ich höre oder lese kurz vom neuen Film, merke mir den Titel, vielleicht schau ich mir noch die Cast-Liste an, versuche dann aber, jede weitere Information zu vermeiden. Denn am liebsten gehe ich unwissend in den Kinosaal – ich wollte hier unvoreingenommen schreiben, aber eine gewisse Erwartungshaltung habe ich wohl immer.

Ich liebe es, wenn das Licht ausgeht, der Vorhang sich hebt und das Licht auf die Leinwand fällt. Als Zuschauer weiß man im besten Fall nicht, was kommt, worum es geht, auf welche Reise einen der kommende Film in den nächsten eineinhalb Stunden mitnehmen wird. Diese Überraschung ist mein Abenteuer. Sie war es, als ich ein Kind war und noch keine Ahnung davon hatte, wie Filme funktionieren, dass Handlungen häufig nach denselben oder ähnlichen Mustern verlaufen oder dass es Konventionen gibt. Nach vielen Filmen, mit dem Studium und dem beruflichen Tun im Filmbereich habe ich diese Unschuld verloren. Und trotzdem versuche ich immer wieder, sie mir ein wenig zurückzuholen, eben indem ich wenig vorab weiß.

Und so saß ich im Februar im Berlinale-Palast und habe mir – eher zufällig – die Pressevorführung von Christian Petzolds Transit angeschaut. Der Film war eigentlich nicht auf meiner Filmliste für das Festival gewesen – und dann hatte ich doch Zeit. Und das Glück, nicht zu wissen, welche Geschichte mir erzählt werden würde. Transit hat mich kalt erwischt.

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Der Film erzählt die Geschichte von Georg, der aus dem besetzten Paris nach Marseille flüchtet. Im Gepäck hat er – weil er gerade zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort war – die Briefe und Papiere des Schriftstellers Weidel dabei, der sich kurz zuvor das Leben genommen hatte. Die mexikanische Botschaft bot Weidel ein Visum an, und so nimmt Georg dessen Identität an, um Frankreich zu verlassen. In Marseille lernt er andere Menschen auf der Flucht kennen, darunter auch Marie, die sich als Weidels Ehefrau herausstellt. Die Handlung selbst hat es in sich, doch was mich von Beginn an in seinen Bann gezogen hat, war zunächst etwas ganz anders.

Transit basiert auf dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers und erzählt von Menschen, die sich – zur Zeit des Zweiten Weltkriegs – in genau diesem Zustand des Transits, der Durchreise, befinden. Flucht und Migration bestimmen von jeher die Menschheitsgeschichte und betreffen sie auch ganz aktuell. Christian Petzold erzählt die über 70 Jahre alte Geschichte und verlegt sie ins Jahr 2017 – auf kongeniale Weise, denn er vermischt beide Zeiten und erreicht so beim Zuschauer genau diesen Zustand des Dazwischenseins. 

Bei mir hat das zumindest funktioniert. Ich sah den Bildern auf der Leinwand zu und dachte: Ah, ein historischer Film. Dann ertönten Sirenen, die ich nicht aus Filmen kenne, die in den 1940er Jahren spielen. Ich horchte auf, konzentrierte mich aber weiter auf die Dialoge. Plötzlich tauchte ein Wagen der französischen Polizei um die Ecke, ein Modell der Gegenwart. Der Brief mit einer Handschrift in altdeutscher Schreibschrift. Die Polizisten in zeitgenössischen Uniformen. Hatte ich etwas verpasst? Nicht aufgepasst? In den Tagen zuvor schon zu viele Filme geschaut? 

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Ich war hin- und hergeworfen zwischen den Zeiten, kannte mich nicht aus. Die Schauspieler hatten so etwas Altmodisches: Nicht nur die Kleidung, nicht nur die Maske, auch ihre Art zu spielen erinnerte auf so wundersame Weise an die alten Zeiten auch im Kino. Und dann gab es so viele Elemente, die deutlich machten: Der Film spielt im außerfilmischen Heute. Großartig! Ein wunderbarer Effekt – vor allem dann, wenn man von ihm überrascht wird. Im Handumdrehen hat mich Transit begeistert – weil er es schafft, durch sein Erzählen beim Zuschauer den Zustand zu erreichen, der das Leben der Figuren bestimmt.

Ich kam aus Berlin zurück mit diesem Film im Gepäck und er hat mich das Jahr über nicht losgelassen. Die ersten zwanzig Minuten von Transit gehören zu den eindringlichsten Momenten meines Filmjahres. Es ist erfrischend, wenn Filme etwas Neues wagen, wenn Filmemacher sich mit ihren Ideen auf Abwege begeben und nicht die Konventionen übernehmen. Dann wieder wird das Kino zum Abenteuer und zur Entdeckungsreise.

Foto Verena Schmöller

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