Der Geschmack von Apfelkernen

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Fade Erinnerungen

„Das Gedächtnis wäre uns zu nichts nütze, wenn es unnachsichtig treu wäre.“ Dieser Satz von Paul Valéry steht am Anfang von Katharina Hagenas Bestseller Der Geschmack von Apfelkernen, der weniger eine Familiensaga als ein nostalgisch-süßer Roman über das Vergessen und Erinnern ist – und nun von Vivan Naefe äußerst werkgetreu verfilmt wurde.
Seit einem Sturz vom Apfelbaum hat das Erinnerungsvermögen der 80-jährgen Bertha Lünschen (Hildegard Schmahl) stetig nachgelassen und zuletzt konnte sie noch nicht einmal ihre Töchter Christa (Oda Thormeyer), Inga (Marie Bäumer) und Harriet (Meret Becker) oder ihre Enkelin Iris (Hannah Herzsprung) erkennen. Nun ist sie verstorben und hat Christas Tochter Iris das alte Haus hinterlassen, in dem Familie Lünschen seit Generationen lebt. Iris ist sich nicht sicher, ob sie dieses Erbe antreten will, da mit diesem Ort so viele Erinnerungen verbunden sind. Daher verbringt sie einige Tage an dem Ort, den sie in ihrer Kindheit liebte und an dem ihre Kusine Rosmarie (Paula Beer) starb.

Inmitten der alten Zimmer und des verwilderten Gartens, bekannter und neuer Gerüche und Geräusche setzt ein assoziativer Erinnerungsprozess ein, der ohne klare chronologische Linie zu der Nacht führt, die für Erzählerin und Hauptfigur Iris alles verändert hat. Dadurch wechselt bereits im Roman die Handlung zwischen verschiedenen Zeitebenen und die Eingangssequenz des Films macht deutlich, dass diese Erzählstruktur übernommen wurde: die Bilder springen von dem Apfelbaum im verwilderten Garten des Hauses erst in die späten 1920er Jahre, in denen Berthas Schwester Anna (Sarah Horvárth) starb, dann zu Iris‘ Ferienaufenthalten in den 1980er Jahren, die Rosemaries Tod beendeten, und schließlich in die Gegenwart. Auf diesen Ebenen wird Iris den vergessenen Wahrheiten und Möglichkeiten näher kommen und zugleich erkennen, dass es manchmal gut sein kann, es nicht allzu genau zu wissen.

Dass man bei dem steten Wechsel der Zeitebenen den Überblick nicht verliert, ist in erster Linie den optisch übereinstimmenden Mehrfachbesetzungen der Figuren in den verschiedenen Altersstufen zu verdanken, die sehr genau auch einzelne Bewegungen vereinen. Einzig die Idee, die erwachsenen Töchter von Anfang 20 bis zum Tod ihrer Mutter über 20 Jahre später von denselben Schauspielerinnen spielen zu lassen, ist irritierend. Außerdem können auch Schauspielerinnen wie Meret Becker, Marie Bäumer oder Hannah Herzsprung nicht über die leblosen Dialoge und die überbordende Musik hinwegtäuschen. Hinzu kommt eine allzu deutliche Symbolik. Beispielsweise wird Iris’ (in jungen Jahren: Thalia Neumann, später Hannah Herzsprung) Traumatisierung durch das stetige Streichen über die Haare deutlich gemacht, mit denen sie eine Narbe auf der Stirn verdecken will, und ihre Ängstlichkeit zeigen beständig hochgezogene Schultern. Doch das ist allzu plakativ, so dass dieser Figur insbesondere in der Gegenwartshandlung Lebendigkeit fehlt und auch die bemühte Romanze mit Max (Florian Stetter) steif bleibt.

Die größte Stärke des Romans sind die sinnlichen Erfahrungen, die Katharina Hagena empfindsam schildert – Johannisbeeren, die plötzlich weiß werden; Inga, die seit ihrer Geburt während eines Gewitters stets elektrisch geladen ist; ein Apfelbaum, der zum zweiten Mal erblüht. Aus diesen Eindrücken bricht im Roman der Strom von Erinnerungen aus, der auch im Film gezeigt werden sollte. Daher spielen das Haus der Großmutter, der Apfelbaum im verwilderten Garten und die vielen Sinneseindrücke eine große Rolle, aber leider werden sie zu deutlich gezeigt. Ist beispielsweise das Verblassen der Johannisbeeren nach Annas Tod im Roman das Ereignis, das am Anfang den Ton des Romans setzt, wird dieser Vorgang im Film durch eine Großaufnahme des Johannisbeerstrauchs so stark akzentuiert, dass der eigentliche Tod Annas und die daraus folgenden Entwicklungen fast nebensächlich erscheinen. Allein die Eigenschaft Ingas (Marie Bäumer), stets elektrisch geladen zu sein, hätte zu fantastischen Bildern führen können – und bleibt aber durch die demonstrative Betonung dieser Fähigkeit lediglich lustig. Dadurch erscheinen die Bilder wie ein Abarbeiten der Romanmotive und sie verlieren Bedeutung und Magie. Hinzu kommt in dem rund zwei Stunden langen Film ein allzu gemächliches Erzähltempo. Sicherlich ist der Stoff umfassend – es gibt ungeklärte Vaterschaften, Nazi-Verstrickungen, Fehltritte, verbotene Lieben und Schwangerschaften –, aber durch das Festhalten an der Struktur des Romans und dem Willen, jedem Motiv gerecht zu werden, bläht sich der Film zu sehr auf. Daher ist Der Geschmack von Apfelkernen eine der Literaturverfilmungen, die durch eine zu große Nähe zum Buch das Potential einer freieren Adaption und damit die Möglichkeit einer eigenen Interpretation verschenken.

Der Geschmack von Apfelkernen

„Das Gedächtnis wäre uns zu nichts nütze, wenn es unnachsichtig treu wäre.“ Dieser Satz von Paul Valéry steht am Anfang von Katharina Hagenas Bestseller „Der Geschmack von Apfelkernen“, der weniger eine Familiensaga als ein nostalgisch-süßer Roman über das Vergessen und Erinnern ist – und nun von Vivan Naefe äußerst werkgetreu verfilmt wurde.
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