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Jahresrückblick

Das Unbewusste des Kinos

Ein Beitrag von Thomas Groh

Aufregungen, gar Eindruck hat das Kinojahr 2018 bei unserem Autor nicht gerade hinterlassen. Zum Glück gibt es immer mehr Filmfestivals, die sich mit der Filmgeschichte befassen – und dabei so Perlen wie den Experimentalfilm „The Action“ zutage fördern.

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The Action - Bild
The Action - Bild

Das Gegenwartskino des Jahres 2018 und ich – keine Liebesgeschichte. Selten stand ich den An- und Aufregern eines Jahrgangs so gleichgültig gegenüber wie in diesem. Vielleicht liegt es am (gar nicht mal so) schleichenden Bedeutungsverlust des Kinos, an der lähmenden Gleichförmigkeit der Franchiseware, vielleicht auch nur daran, dass ich mich bis heute nicht recht mit den digitalen Projektionen arrangiert habe – fernsehen kann ich schließlich auch zuhause.

Entsprechend ratlos war ich, als die Rundmail von Kino-Zeit zum Adventskalender eintraf und es um die eindrücklichsten Kinomomente des Jahres gehen sollte. Klar gab es gute Filme – aber „eindrücklich“, so richtig mit „wow“? Wenig. Was also schreiben? Im Kino gewesen, gegähnt?

Bis mir einfiel, dass ich 2018 dennoch oft im Kino saß – allerdings kaum in neuen, sondern in vielen alten Filmen. Im Rahmen von Kinoausflügen nach Frankfurt (zu Terza Visione, dem Italogenrefilm-Festival) und zweimal nach Nürnberg, zum Karacho-Actionfilmfest und zum Giallo-Festival Il Mostro Di Norimberga. Festivals, die strikt alte Kinokopien zeigen, mitunter zuvor noch eigens restauriert – dafür nehme ich gerne Zugreisen und Hotelkosten auf mich. Die Filmgeschichte und ich – 2018 durchaus eine Liebesgeschichte.

Die Kinoausflüge zu diesen liebevollen Mini-Festivals aus dem Dunstkreis des „Eskalierende Träume“-Blogs sind cinephile Erkundungs-Safaris. Klar gibt es auch Altbekanntes: Dario Argentos Profondo Rosso von einer farblich brillanten 35mm-Kopie – was für eine Cine-Epiphanie! Doch vor allem geht es darum, Übersehenes und Rares wieder oder überhaupt erst zu entdecken – es geht um die Pflege eines neugierigen Blicks auf die überlieferte Substanz. Weshalb es niemanden wunderte, dass beim Karacho-Festival neben Italo-Reißern, japanischen Schwertkampffilmen und US-Klassikern wie RoboCop auch ganz selbstverständlich ein von Sébastien Ronceray wunderbar kuratiertes Programm mit Experimentalfilmen lief.

Ronceray zeigte Arbeiten, bei denen Film buchstäblich als Material der künstlerischen Auseinandersetzung im Vordergrund steht. Material, in das sich eingreifen, das sich manipulieren lässt – „Action“ also nicht als Sujet eines Films, sondern als dessen künstlerische Grundlage. Quasi Actionskunst. The Action hieß denn auch ein schlicht atemberaubender Film von David Matarasso, der mit dreieinhalb Minuten Spielzeit so lange dauert wie ein guter Rocksong und eine vergleichbare Durchschlagskraft entwickelt – und das, obwohl er völlig stumm ist.

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Zu sehen ist eine Art Wörterbuch des Bewegtbildes, das zugleich archäologische Arbeit am Unbewussten des Kinos leistet. Akribisch hat Matarasso 35mm-Kopien von Action-, Horror- und Porno-Filmen sezieren, Figuren, Motive und Szenerien daraus isoliert und die Elemente per Collage zueinander in Dialog treten lassen. Ähnlich wie bei William S. Burroughs’ literarischem Cut-Up, bei dem Text durch Zerschneiden neu angeordnet wird, dringt The Action in tiefere Bedeutungsschichten vor: Die konfrontative Stoßkraft des Actionkinos, die Fetischisierung des Bewegungs-Vektors als phallisch motivierte Ersatzhandlungen, die pyromanische Ekstase des Actionfilms als Sublimierung orgasmischer Lüste.

Es geht also, kurz gesagt, mithin um die explosive Destruktivität toxisch verhärteter Männlichkeit.

Aber auch um die Schönheit des Materials. Entstanden ist The Action 2011, also mitten im Umbruch zwischen analogem und digitalem Kino – und zwar in strikt analoger Arbeitsweise, so wie der Film auch 2018 in Nürnberg von einer analogen Kopie gezeigt wurde. Darin liegt dann vielleicht auch der medienhistorische Witz dieser Actionskunst-Geste: Während das analoge Kino aus den Sälen vertrieben wird, zerstört ein Filmkünstler willentlich Filmkopien, um in diesem willentlich herbeigeführten Verschleiß von Filmmaterial dessen Schönheit als Flaschenpost ins voll digitale Zeitalter zu werfen: Was Kino gewesen sein wird – Actionfilm im Futur II.

Diesen Film 2018 erlebt zu haben, als die digitale Kühle des Gegenwartskinos mich immer häufiger ungerührt aus dem Saal entließ, das ergibt schon jede Menge Sinn.

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