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Cannes 2024

Postkarten aus Cannes #10: Höhe- und Tiefpunkte

Ein Beitrag von Joachim Kurz

Joachim Kurz schickt Post aus dem Festivaltrubel. Nach den viel diskutierten großen Werken wie Coppolas „Megalopolis“ ist heute endlich Zeit für stillere Wettbewerbsbeiträge – und sogar einen Film aus einer Nebensektion.

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POSTKARTE #10

Bei Indien als Filmland denkt natürlich jede/r sofort an die aufwändigen Bollywoodproduktionen, die auch in Deutschland vor einiger Zeit noch scharenweise die Besucher*innen in die Kinos lockten. Darüber hinaus taucht das Land mit der größten Filmproduktionen der Welt (um die 1.000 Filme entstehen dort pro Jahr, was mehr ist als der Output von den USA und Europa zusammengenommen) auf der Landkarte des Weltkinos aber nicht allzu oft auf, von vereinzelten Werken wie Lunchbox (2013; Regie: Ritesh Batra) einmal abgesehen. Umso größer war die Freude bei der Verkündung des diesjährigen Wettbewerbs in Cannes, in dem mit All We Imagine As Light zum ersten Mal seit drei Dekaden wieder ein Film vom Subkontinent auftauchte. Und mehr noch – der Debütspielfilm der jungen Regisseurin Payal Kapadia, die 2021 schon einmal nach Cannes eingeladen war, damals allerdings mit einem Dokumentarfilm (A Night of Knowing Nothing).

Schnell machten hier in Cannes im Vorfeld die Gerüchte, dass dieser Film, recht spät am vorletzten Tag im Wettbewerbsprogramm platziert, ein Gamechanger werden könnte, und durchaus ein heißer Kandidat auf eine der begehrten Palmen. Zwar sind solche Prognosen nicht immer treffsicher, in diesem Fall aber zeigt sich nun, dass mit diesem Film wirklich zu rechnen ist.

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All We Imagine As Light beginnt in ganz dokumentarischer Manier mit einer Kamerafahrt durch eine ärmere Gegend der indischen Megacity Mumbai, dazu gesellen sich Stimmen von Menschen, die aus den ländlicheren Gegenden Indiens hierher gezogen sind – in der Hoffnung auf einen Job und die Chance, ein neues, ein besseres Leben zu beginnen. Im Mittelpunkt des Films stehen zwei Krankenschwestern, die ebenfalls den Weg aus der Provinz in die Metropole gegangen sind: die ältere Prabha (Kani Kusruti) und die jüngere Anu (Divya Prabha). Prabhas Mann ist vor langer Zeit nach Deutschland gegangen, um dort zu arbeiten, der Kontakt zwischen ihm und seiner Ehefrau ist komplett abgerissen, doch eines Tages erhält sie ein Paket mit einem Reiskocher „made in Germany“ und dieses unerwartete Geschenk setzt einen Prozess in Gange. Weil die Gabe unterschiedlich verstanden werden kann – als Versuch einer Kontaktaufnahme nach langer Zeit oder als Abschiedsgeschenk, das das endgültige Ende der Beziehung markiert.

Auch Anu hat ihre Sorgen und Nöte: Ihr Freund Shiraz ist Teil der muslimischen Minderheit in Indien und so hält sie ihn verborgen, obwohl im Krankenhaus längst über die „unschickliche“ Beziehung getratscht wird. Um der Enge Mumbais zu entfliehen, folgen Prabha und Anu einer weiteren Kollegin namens Parvaty (Chhaya Kadam), die, vom Rauswurf aus ihrer Wohnung bedroht, in ihren Heimatort zurückkehrt. Und dort wird sich Prabha endlich bewusst über die wahre Natur ihrer Fernbeziehung zu ihrem Ehemann, der ihr in Form eines beinahe Ertrunkenen erscheint.

All We Imagine As Light ist ein stiller Film voller Magie und kleiner Feinheiten, treffsicher und sensibel inszeniert und voller Einsichten in das Leben seiner Protagonist*innen, die sich allesamt zwischen den Zeilen und zwischen den Bildern ganz selbstverständlich einstellen. Vielleicht der subtilste Film des diesjährigen Wettbewerbs, und mit Sicherheit einer der schönsten.

Ganz und gar nicht subtil hingegen ist Gilles Lellouches L’amour ouf, der nicht nur (teilweise) in den 1980er Jahren spielt, sondern sich auch so anfühlt – leider auf eine eher altbackene Weise. Gleich zu Beginn sieht man, wie ein bewaffneter Konflikt zwischen zwei Banden heftig eskaliert und einer der Männer, den die Kamera zuvor als Protagonisten markiert hatte, erschossen wird. Dann folgt ein Zeitsprung zurück und wir sehen den Beginn einer Liebesbeziehung zwischen der Schülerin Jackie (Mallory Wanecque) und dem Außenseiter und Schulabbrecher Clotaire (Malik Frikah). Trotz anfänglicher Aversionen kommen sich die beiden näher und sind bald schon unzertrennlich. Warum, weiß man zwar nicht genau (und spürt es auch nicht), aber sei’s drum, die Attraktionen eines bad guys halt, der aber natürlich das Herz am rechten Fleck hat. Klar, dass Clotaire auf die schiefe Bahn gerät. As es bei einem Überfall zu tödlichen Schüssen kommt, hält er für den Sohn des Gangsterbosses den Kopf hin – Ehrensache. Gedankt wird es ihm freilich nicht und so sinnt er nach zehn Jahren Knast sowohl auf Rache wie auch auf die Neubelebung seiner Beziehung zu Jackie. Die hat ihn zwar auf seinen Wunsch hin niemals im Knast besucht, aber auch hier: Schwamm drüber!

Man merkt es bereits beim Nacherzählen: Plausbilität und psychologisches Gespür sind nicht gerade die Stärken dieses Dramas, das viel wilder tut als es ist. Auch von der Tonalität her verhebt sich Lellouche gewaltig und lässt Klischee auf Klischee, Misston auf Misston prallen. Sicherlich hat L’amour ouf ein paar gute Momente, das Ende gehört aber ganz gewiss nicht dazu: So, als könne er sich nicht für ein Ende entscheiden, verpasst Gilles Lellouche ein ums andere Mal den Ausgang, reiht Schlussbild an Schlussbild, baut zwischendrin noch eine völlig unpassende Tanzeinlage hinein (immerhin sorgt das für ein wenig unfreiwillige Erheiterung) und endet in einer derart kitschigen Einstellung, dass man sich an die schlimmsten Auswüchse missratener Eighties-Schmonzetten erinnert fühlt. Ein Werk, bei dem man sich bei allem Verständnis für filmischen Patriotismus doch fragen muss, wie es den Weg in den Wettbewerb geschafft hat. Allein die Präsenz von Adèle Exarchopoulos, die die Jackie in späteren Jahren gibt, ist keine Rechtfertigung für die Auswahl dieses Filmes.

© NFC Latvia / CNC France

Um diese Postkarte aber nicht mit solch einem Tiefpunkt zu beenden, schnell noch ein paar Worte zu einem Film in der Nebenreihe Un Certain Régard: Der Animationsfilm Flow von Gints Zilbadolis aus Lettland ist eine ganz besondere Kostbarkeit. Im Mittelpunkt steht eine kleine namenslose Katze (überhaupt kommt der Film ohne ein einziges Wort aus), das durch die Wälder einer fantastischen Landschaft streift, als eine Flut die Welt um sie herum verschluckt. Zwar kann sich das Tier auf ein Boot retten, dort aber muss es mit einer Gruppe anderer Tiere eine Notgemeinschaft bilden, denn nur Solidarität kann in dieser Ausnahmesituation das gemeinsame Überleben sichern. Wenn man so will, bildet Flow eine Parabel auf die sich abzeichnende Klimakatastrophe: wie in der herzergreifenden Geschichte, so ist auch die Menschheit in unserer Wirklichkeit darauf angewiesen, nicht egoistisch zu handeln, sondern an einem Strang zu ziehen. Im Film geht das gut aus. In unser aller Leben ist das allerdings noch die Frage. Flow jedenfalls macht Mut, den Gefahren ins Auge zu sehen und die Hoffnung nicht zu verlieren.

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