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In ihrem Film über den querschnittsgelähmten Ben und seine Freunde versuchen die beiden Regisseur Grand Corps Malade und Mehdi Idir einen ungewöhnlichen Blick auf das Leben mit einer Behinderung zu werfen – und überraschen mit viel Humor und einiger Derbheit.

Lieber leben (2016)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Das Leben geht weiter

Es ist eine ungewohnte Perspektive, die die Kamera und mit ihr der Zuschauer zu Beginn von Lieber leben einnimmt. Wie der Mensch, von dem sie erzählt, verharrt sie in den ersten kurzen Szenen auf dem Rücken liegend, starr, ans Bett gefesselt, so dass die Menschen, die in das Blickfeld treten, voneinander getrennt durch einen Wimpernschlag oder einen kurzen Schlaf – wer kann das schon sagen? –, stets ein wenig bedrohlich wirken, wenn sie sich zu dem Kranken herabbeugen. Und die Lampe an der Decke des Zimmers, auf die der Bewegungslose die ganze Zeit zu starren verurteilt ist, besteht aus genau 245 Quadraten – Dinge, die man halt weiß, wenn man dazu verurteilt ist, immer auf dieselbe Stelle zu starren. Zwar lösen sich diese Momente der Erstarrung, des Fixiertseins und mit ihnen die Perspektive schnell wieder auf, doch sie geben einen nahezu körperlichen Eindruck von all der Hilflosigkeit, dem Schmerz, der Verzweiflung, die man in dieser Lage empfindet.

Benjamin bzw. Ben heißt der junge Mann (dargestellt von Pablo Pauly), dessen Weg durch die Reha die beiden Regisseure Grand Corps Malade und Mehdi Idir in ihrem ebenso heiteren wie bewegenden und damit auf wunderbare Weise ambivalenten Film begleiten. Mit ihm taucht der Zuschauer in die wundersame Welt des Mikrokosmos Reha-Zentrum ein, lernt dort den aufreizend gut gelaunten Krankenpfleger Jean-Marie (Alban Ivanov) kennen, die etwas tölpelhafte Schwester Christiane (Anne Benoît) und all die anderen Patienten der Einrichtung wie Farid, Toussaint und Steeve sowie die überaus attraktive Samia (Nailia Harzoune), für die Benjamin bald schon Gefühle entwickelt. Mit diesen Schicksalsgenossen und Freunden sucht sich Benjamin seinen Weg in ein nun völlig verändertes Leben. Er nimmt den Kampf mit seinem Körper auf, der ihm nicht mehr gehorchen will, erkämpft sich einen gewaltigen Zugewinn an Freiheit, als er sich endlich in einem Rollstuhl fortbewegen kann, erlebt kurze Momente der Euphorie und Phasen der Niedergeschlagenheit, in denen sich vor allem der ansteckende Humor seiner Mitpatienten als bestes Heilmittel entpuppt. Auch wenn der Humor die Ungewissheit, wie es auf diesem schweren Weg weitergehen wird, nicht einfach hinweglachen kann.

Dass der Zuschauer den wundervollen Charakteren, die die beiden Regisseure dem Leben nachgezeichnet haben, so nahekommt, liegt nicht nur an dem herzfrischend direkten Zugang, den das Drehbuch zu seinen Charakteren findet, sondern ist auch der einfallsreichen Kamera von Antoine Monod zu verdanken, die das Geschehen mit größtmöglicher Nähe einfängt – eine Nähe, die dem Zuschauer dabei hilft, sich mit Leichtigkeit auf die ganz neue Perspektive einzulassen, die der Film hier eröffnet.

Man merkt solchen Entscheidungen an, dass sich die beiden Regisseure eingehend mit der Thematik ihres Sujets befasst haben – und mehr noch: Der eine von ihnen mit dem Künstlernamen Grand Corps Malade (zu deutsch etwa „großer kranker Körper“), dessen bürgerlicher Name Fabien Marsaud lautet, weiß genau, wovon er erzählt. Ihm widerfuhr im im Jahre 1997 das gleiche Schicksal wie Benjamin: Auch er verletzte sich durch einen Sprung in ein Schwimmbad so schwer, dass die Ärzte ihm beschieden, er würde nie wieder laufen können. Zwei Jahre später vollbrachte er das Wunder, heute gilt der Gehstock, der ihm beim Laufen hilft, als das Markenzeichen des Mannes, der es später als Poetry Slammer in Paris zu einiger Berühmtheit brachte. Kein Wunder also, dass der Vorspann des Filmes verkündet, Ähnlichkeiten mit realen Personen seien eben gerade „nicht zufällig“.

Gänzlich ohne Pathos und Kitsch, aber mit einer gehörigen Portion Witz und Derbheit erzählt Lieber leben vom Weg zurück ins „normale Leben“, von den Höhen und Tiefen einer ungewöhnlichen Freundschaft unter Schicksalsgenossen und von der Lust am Leben – gleichwohl, in welcher Form wir an ihm teilhaben dürfen.
 

Lieber leben (2016)

Es ist eine ungewohnte Perspektive, die die Kamera und mit ihr der Zuschauer zu Beginn von „Lieber leben“ einnimmt. Wie der Mensch, von dem sie erzählt, verharrt sie in den ersten kurzen Szenen auf dem Rücken liegend, starr, ans Bett gefesselt, so dass die Menschen, die in das Blickfeld treten, voneinander getrennt durch einen Wimpernschlag oder einen kurzen Schlaf – wer kann das schon sagen? –, stets ein wenig bedrohlich wirken, wenn sie sich zu dem Kranken herabbeugen.

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