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Andreas Kleinert verbindet in „Lieber Thomas“ das Reale mit dem Träumerischen, um mit Albrecht Schuch und Jella Haase in den Hauptrollen von Thomas Braschs Leben und Wirken zu erzählen.

Lieber Thomas (2021)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Zwischen Dichtung und Wahrheit

Von der ersten Minute an faszinieren diese großen Kinobilder in Schwarz-Weiß, unterlegt mit intensiven Klängen. Plötzlich schwebt die Kamera geschmeidig über eine Landschaft. Vater und Sohn sitzen im Auto und singen ein Lied. Der Junge wird als Kadett in einer Kaserne aufgenommen. Kurz darauf liegt er träumend im Gras, als sei er inmitten einer Terrence-Malick-Meditation. Dann sind wir auf einmal in einer grausamen Mobbing-Hölle gelandet, die an Volker Schlöndorffs Literaturverfilmung „Der junge Törless“ (1966) erinnert.

Andreas Kleinert hat für sein Biopic Lieber Thomas über den Autor und Regisseur Thomas Brasch (1945-2001) einen furiosen Anfang gewählt. Schnell wird uns klar, dass wir hier keine brave Nacherzählung eines Lebens serviert bekommen. Vielmehr werden hier Tatsachen mit Surrealem gemischt, die Pfade der Wirklichkeit und der Fiktion verschränkt. Sehr schön auf den Punkt gebracht wird das in einer Sequenz, die damit beginnt, dass eine Frauenstimme via Voice-over das Geschehen kommentiert. Der elfjährige Thomas (bemerkenswert: Claudio Magno) kann seine Eltern nirgends finden. Im Fast-Forward-Modus bewegt er sich durch die Wohnung und hinaus auf die Straße, bis das Ganze immer märchenhaftere Züge annimmt. Es dauert eine Weile, bis deutlich wird, dass es sich um eine Gute-Nacht-Geschichte handelt, die Thomas und einem Freund vorgelesen wurde und in die sich der Elfjährige als Held hineinimaginiert hat.

Auch im weiteren Verlauf, wenn die Kindheitsepisode abgeschlossen ist, hält Kleinert gekonnt diese Balance des Ungewissen. Kapitelüberschriften werden eingeblendet, Archivmaterial wird zwischen die inszenierten Aufnahmen geschnitten. Thomas (nun energisch verkörpert von Albrecht Schuch) und seine Freundin Bettina (Paula Hans) spielen zum Vergnügen eine der ikonischen Szenen aus Jean-Luc Godards Außer Atem (1960) nach. Sie sind Studierende an der Hochschule für Film und Fernsehen Babelsberg. Mit ihren Kommiliton_innen und ihrer Dozentin sitzen sie später im Kinosaal und gucken Alfred Hitchcocks Die Vögel (1963). Lust, im akademischen Stil darüber zu reden, haben sie dann aber überhaupt nicht. Ohnehin ist Thomas mit seinem Dramaturgie-Studium unzufrieden; er will in die Regie wechseln. Und er will Unruhe stiften.

Es ließe sich einwenden, dass die Dialoge in Lieber Thomas oft ziemlich prätentiös wirken. Jede Replik ist ein Bonmot, in jedem Satz wird eine tiefe Überzeugung vermittelt. Und auch die Intimität mutet artifiziell an – etwa der sandige Sex am Strand, als hätte Helmut Newton zum Fotoshooting gerufen. Doch das passt natürlich ebenfalls zu Kleinerts Herangehensweise, die der magisch schillernden Prosa und den einfallsreichen Filmen von Thomas Brasch in ihrer wilden, kühnen Art erstaunlich nahekommt.

Bei aller Stilisierung seiner Person und seines Umfeldes wird spürbar, dass Thomas Brasch nicht an Kunst um der Kunst willen oder an Rebellion um der Rebellion willen interessiert war. Als er 1968 die Bilder der sowjetischen Panzer in Prag sieht, ruft er mit seiner Clique zum Protest in Berlin auf. Vom eigenen Vater (Jörg Schüttauf) wird er an die Stasi verraten und muss vorübergehend in den Knast. Als er wieder auf freiem Fuß ist, trifft er die Liebe seines Lebens, Katarina (herrlich berlinernd: Jella Haase). Auch im Ausdruck der Gefühle sind nur die imposantesten Gesten denkbar. Thomas schreibt Katarina ein Stück auf den Leib. Eigentlich hat diese gerade einen Anderen geheiratet. Aber was soll die ganz, ganz große Liebe schon aufhalten? Gemeinsam reisen die beiden später mit Katarinas kleiner Tochter in den Westen aus.

Bis zum Schluss weiß dieser Film zu überraschen. Nach einem Zeitsprung sind wir im Jahre 2001, dem Todesjahr von Thomas Brasch, der nun von Peter Kremer gespielt wird. Befinden wir uns plötzlich wieder in der Gute-Nacht-Geschichte? Ja und nein – wir sind irgendwo zwischen Dichtung und Wahrheit, wir sind in der Welt von Thomas Brasch.

 

Lieber Thomas (2021)

Der Eröffnungsfilm der Reihe Neues Deutsches Kino beim Filmfest München 2021 ist ein Biopic über den Schriftsteller Thomas Brasch.

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Meinungen

Olaf · 10.11.2021

Kann mir jemand sagen warum bei diesem Film FSK 16 entschieden wurde?

Ralf · 19.11.2021

Das kann man auf fsk.de nachlesen. Zitat: "Der Film enthält einige intensive Streitsituationen (u.a. mit dem Vater) und zeigt zermürbenden psychischen Druck und gewalttätige Konflikte mit der DDR-Staatsgewalt. Eine sehr eindringliche Szene, in der zwei Frauen auf eigenen Wunsch erschossen werden, wird zeitnah als literarische Vision aufgelöst. Jugendliche ab 16 Jahren sind aufgrund ihres Entwicklungsstands fähig, der komplex erzählten Geschichte zu folgen und die Geschehnisse in den dramaturgischen und politischen Kontext einzuordnen. Das Stilmittel der Schwarzweißbilder und die zeitliche Verortung erleichtern zudem eine emotionale Distanzierung. Eine verstörende oder anderweitig überfordernde Wirkung ist daher bei Zuschauern ab 16 Jahren nicht zu befürchten.
FSK ab 16 freigegeben"