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Wie oft hat man sich eigentlich gefragt, wie die eigenen Eltern so als Kind waren. Céline Sciammas „Petite Maman“ nimmt das Thema auf und verwandelt es in eine wunderschöne Fabel über Ängste und Hoffnung und wie es ist ein Kind zu sein.

Petite maman - Als wir Kinder waren (2021)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Von Großmüttern, Müttern und Töchtern

Auf wiedersehen! Auf wiedersehen! Auf wiedersehen! Mit diesen Worten beginnt Céline Sciammas „Petite Maman“ als die achtjährige Nelly (Jósephine Sanz) sich von den Bewohnerinnen des Altenheims verabschiedet, in dem ihre geliebte Großmutter gerade gestorben ist. Unverzüglich danach machen sich Nelly, ihr Vater (Stéphane Varupenne) und ihre Mutter Marion (Nina Meurisse) auf, um das Haus der Großmutter auszuräumen. Doch kaum dort angekommen, verschwindet Nellys Mutter.

Nelly bleibt auf sich gestellt, während der Vater das Haus ausräumt und räubert durch den nahegelegenen Wald. Dort begegnet sie einem Mädchen, das ihr unglaublich ähnlich sieht. Das Kind heißt Marion. Sehr schnell wird klar, dass Nelly und Marion miteinander verbunden sind. Genauer gesagt betritt Nelly in diesem Wald eine magisch-reale Welt, in der ihre eigene Mutter als Kind auf sie trifft. Fortan verbringen die Mädchen jede Minute miteinander und Nelly tritt in eine Zeit und einen Raum ein, der wohl von vielen Menschen ein großer Begehrlichkeitstraum ist.

Sciamma schafft mit Petite Maman eine Fabel, die den Modus des Zeitreisens dazu nutzt, die eigenen Eltern als Kinder kennenzulernen und sie so wahrhaftig zu begreifen, wie man es im echten Leben niemals vermag. Dabei arbeitet der Film vor allem in einem Modus, der zeitlich kaum greifbar ist. Petite Maman verortet sich nicht genau, sondern bleibt greifbar aber nicht einordenbar. Die Geschichte könnte vor zwanzig Jahren spielen oder vor siebzig. Dass Zeit hier zwar ein Mittel zum Zweck, letztlich aber in gewisser Weise egal ist, erlaubt dem Film nicht nur Allgemeingültigkeit, sondern auch sich auf das Wesentliche zu konzentrieren: Wie kann man seine Eltern und damit auch ein stückweit sich selbst ergründen? Welche generationenübergreifenden Geschichten, Ängste, Hoffnungen und Traumata beeinflussen uns und unsere Kinder, von denen wir überhaupt nicht begreifen, wie stark sie sind? 

Der magische Realismus, der den Film auf jeder Ebene durchzieht, er hat eine ganz dezente Note, die erlaubt dem Geschehen trotzdem Glauben zu schenken. Dies ist kein Traum, kein Abenteuer im Kopf eines Kindes, das man als Hirngespenst abzutun weiß. Nein, Petite Maman nimmt seine jungen Protagonistinnen und ihre Geschichte ernst und arbeitet stets mit Respekt und auf Augenhöhe, so wie Sciamma es schon bei Tomboy getan hat. Die Szenen mit den Mädchen wurden nie geprobt. Die Regisseurin und ihr Team bauten mehr darauf die richtige Atmosphäre zu schaffen und dadurch den Kindern zu erlauben ihre eigene Interpretation der Geschichte zu geben. Genau diese Achtung und Würde gegenüber dem Können und der Weisheit der Kinder kreieren die emotionale Tiefe und eine Ehrlichkeit im Ausdruck, von der dieser Film sich speist.

Sciammas Zu- und Umgang mit der Materie erinnern an die liebevollen und magischen Werke Hayao Miyazakis und die Arbeiten von Studio Ghibli. Es ist die Mischung aus Magisch-Realistischem, durch das sich Themen verhandeln lassen, die viele Filme mit oder für Kinder eher ungern angehen. Wie bei Miyazaki verhandelt Petite Maman harte Themen auf seine ganz eigene Weise. Dabei geht es nicht nur um den Tod der Großmutter, den Nelly gerade durchmacht, sondern auch um die Ängste die eigene Mutter zu verlieren, die sich durch die Generationen zieht. Während Nelly nicht weiß, ob ihre Mutter wieder zurückkommt, weiß Marion als Kind nicht, wann ihre Mutter wohl sterben wird, denn die Frau, geplagt von einer Krankheit hat selbst Angst vor dem Tod und ihre Tochter spürt das ganz klar. Die Fabel vermag hier einmal diese Ängste zu überbrücken und einen Raum zu schaffen, in dem der Austausch zwischen den Generationen möglich ist. 

Dabei arbeitet der Film stets mit einer Kinderlogik, die nicht nur überraschend, sondern oftmals erfrischend ist und eine liebevolle Wärme zwischen den verschiedenen Frauenfiguren knüpft, für die Sciamma sich stets in ihren Filmen einsetzt. 

Petite Maman ist für Erwachsene und Kinder zugleich und erlaubt eine Utopie, die gleichsam fest im Hier und Jetzt verankert ist. Und genau diese Mischung macht den Film nicht nur zum Balsam für die Seele, sondern auch zu einer eigenartig magischen kollektiven Erfahrung für das Publikum. Wir alle haben Mütter (egal ob leiblich, adoptiert oder als Sehnsuchtsfigur) zu denen wir nicht so viel Zugang haben wie wir eigentlich bräuchten. Wir alle sehnen uns nach den eigenen Wurzeln und Erfahrungen unserer Vorfahren und Familien. Petite Maman erlaubt uns für einen Augenblick diesen Wunsch erfüllt zu wissen.

Petite maman - Als wir Kinder waren (2021)

Der Film stellt zwei achtjährige Zwillingsschwestern in den Mittelpunkt.

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Meinungen

wignanak-hp · 05.04.2023

Einfach nur wunderbar!

Ute hanfdressler · 24.03.2022

Ein wunderbarer Film, langsam, sorgsam und genau: Kinder mit ihrer Imaginatonskraft überwinden
Ängste um Verlust und Tod, indem sie diese durchspielen und ihre Kraft für die Freundschaft nutzen. Grosser Dank an die Autorin, die in Kinderherzen schauen kann!