Tomboy (2011)

Eine Filmkritik von Tim Slagman

Ein Sommer als Junge

In Frankreich ist der August der Monat, in dem alles stillsteht. Die Menschen fliehen aus den Büros in den Urlaub, aus den Städten aufs Land – der Sommer bedeutet Aufbruch, Freiheit und, ja, Eskapismus. So ist es trefflich, dass Céline Sciamma ihren Film Tomboy in den großen Ferien spielen lässt, einer Zeit, in der die Kinder in jedem Land von allen Pflichten befreit sind.

Natürlich ist dies eine zutiefst romantische Vorstellung. Und natürlich gehört es zum Ausbruch dazu, dass er nicht von Dauer sein kann in der bürgerlichen Welt. Zu Lester Burnham in American Beauty kam diese Einsicht in Form eines Kopfschusses – die 10-jährige Laure (Zoé Héran) wird schlicht und einfach zurück in die Schule müssen. Und dort kann sie nicht mehr Michael sein, der Junge Michael, als der sie sich ihren neuen Freunden am neuen Wohnort und, schlimmer noch, Lisa (Jeanne Disson) vorgestellt hat, der Michael sogar einen flüchtigen Kuss stehlen kann.

Sciamma gewann im vergangenen Jahr auf der Berlinale den „Teddy Jury Award“, der Filmen mit schwul-lesbischer oder Transgender-Thematik vorbehalten ist. Zu den großen Stärken ihrer Arbeit gehört gerade der Verzicht aufs Deklamatorische und explizit Politische. Sciamma nimmt sich jede Menge Zeit, um den Alltag von Laures Familie und Clique darzustellen, sie erzählt Szenen aus, die scheinbar Nebensächliches zeigen: das häusliche Abendessen, die Autofahrten mit dem Vater (Mathieu Demy) oder das Spielen mit Laures kleiner Schwester Jeanne (Malonn Lévana). Und es dauert lange, bis sie zeigt, dass der älteste Spross der Familie mit den kurzen Haaren und den weiten Hosen eigentlich ein Mädchen ist.

So entlarvt die Regisseurin den vorurteilsbelasteten Blick des Publikums auf sehr charmante Weise. Ihr gelingt das Kunststück, einen tatsächlich zauberhaften Sommer entstehen zu lassen, das Panorama einer Idylle, in der die Zeit stillzustehen scheint. Diese Magie entwickelt der Film gerade aus der Natürlichkeit seiner Inszenierung: aus der genauen Beobachtungsgabe, der Konzentration auf die Figuren, dem Verzicht auf künstliche dramaturgische Zuspitzung und forcierte Emotion – kaum Musik gibt es etwa zu hören und wenn doch, dann spielt garantiert irgendwo ein CD-Player und Laure und Lisa toben dazu herum.

Sciamma umschifft all diese Klischees, die Erklärungsmuster und die meisten der Peinlichkeiten, die das Sujet bieten würde – immerhin gehört die Travestie zu den beliebtesten wie abgeschmacktesten Subgenres der Komödie. Wenn Laure, also Michael, mit ihren Freunden baden geht, dann schneidet sie ihren Badeanzug um zu einem knackigen Slip und knetet sich einen künstlichen kleinen Penis dazu. Doch all dies ist nicht auf eine Pointe hin gearbeitet, sondern trotz des leisen Humors, der nicht nur diese Szenen verfeinert, mit großer Ernsthaftigkeit präsentiert. Die junge Zoé Héran zeigt Laure als Suchende – aber nicht als Verzweifelte. Befreites lautes Lachen gibt es in Tomboy ebenso wenig wie düstere existenzielle Verlorenheit.

Diese Geschichte besteht beinahe nur aus Zwischentönen, sie lässt sich daher auch nicht ins festgefügte Korsett des typischen Kinderfilms pressen. Der Sommer geht zuende, soviel ist klar – doch die Suche nach der eigenen Identität und nach Orientierung in einer immer noch reichlich unflexiblen Gesellschaft geht weiter.
 

Tomboy (2011)

In Frankreich ist der August der Monat, in dem alles stillsteht. Die Menschen fliehen aus den Büros in den Urlaub, aus den Städten aufs Land – der Sommer bedeutet Aufbruch, Freiheit und, ja, Eskapismus. So ist es trefflich, dass Céline Sciamma ihren Film „Tomboy“ in den großen Ferien spielen lässt, einer Zeit, in der die Kinder in jedem Land von allen Pflichten befreit sind.

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Meinungen

Kinola · 09.03.2012

wunderschöner film!