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Wie sieht ein Frauenmörder aus? Die Regisseure Stefan Kolbe und Chris Wright nähern sich dieser Frage über Umwege. Ihr experimenteller Dokumentarfilm soll in erster Linie Licht auf die eigene Wahrnehmung eines Menschen werfen. Wie entsteht das Bild, das wir uns von einem anderen machen? Und was sagt das über uns selbst aus?

Anmaßung (2021)

Eine Filmkritik von Teresa Vena

Auf Augenhöhe mit einem Mörder

Stefan S. hat vor 15 Jahren eine Frau ermordet. Die Neugierde, zu erfahren, wie dieser Mann aussieht und wer er genau ist, bedienen die beiden Regisseure Stefan Kolbe und Chris Wright in ihrem experimentellen Dokumentarfilm aber nicht. Sie gehen vielmehr von sich selbst aus und fragen sich, wie in uns das Bild eines anderen Menschen eigentlich entsteht. Und wie stellt man sich einen Mörder vor? Da sich Stefan S. nicht offen zeigen wollte, mussten sich die Autoren für „Anmaßung“ zwangsläufig ein dramaturgisches und visuelles Konzept einfallen lassen, das die Mehrdeutigkeit von Identität reflektiert.

Einfach machen es sich die beiden nicht. Sie sind ständig bemüht, ihr Thema aus verschiedenen Perspektiven zu beleuchten, hinterfragen dabei die Essenz der dokumentarischen Arbeit an sich und stellen sich dem Risiko, dass am Ende mehr Fragen offen sein werden, als es Antworten dafür gibt. So ist auf der einen Seite eine allgemeingültige psychologische Studie entstanden und trotzdem das Porträt eines einzelnen Menschen. Denn dieser Stefan S. geht einem schließlich unter die Haut – unter anderem vielleicht genau deswegen, weil er sich im Film einer klaren Einordnung entzieht.

Kennengelernt haben ihn die Regisseure bei einer Therapiesitzung im Gefängnis, an der noch andere Schwerverbrecher teilgenommen haben. Sie besuchten die Gruppe anfänglich aus dem Interesse heraus, über die berufliche Distanz von Therapeuten zu ihren Patienten zu recherchieren. Ähnlich wie ein Psychologe wollten Kolbe und Wright erforschen, was es bedarf, um sich als Filmemacher vor einer zu vereinnahmenden Beziehung zwischen ihnen und ihrem Protagonisten zu schützen. Ob dies wirklich geglückt ist, bleibt zweifelhaft. Zwischen den Zeilen lässt sich ablesen, dass die Auseinandersetzung mit Stefan S. eine ermüdende war und zwischenzeitlich der Wunsch bestand, das Projekt abzubrechen.

Aufgebaut ist Anmaßung nach einem sehr suggestiven Prinzip. Genauso wie für die Autoren selbst wandelt sich auch die Wahrnehmung des Zuschauers gegenüber Stefan S im Laufe der Zeit. Zu Beginn erlebt man ihn als einen ruhigen, eher zurückhaltenden und höflichen Mann. Daran ändert auch die Aussage eines Wärters, man solle sich nicht beirren lassen, Stefan S. sei ein brutaler Frauenmörder, nicht viel. Noch eine ganze Zeitlang bleibt das so. Der Film rollt die Vergangenheit von Stefan S. auf, berichtet über seine harte Kindheit in der ehemaligen DDR, seine einzelgängerische Art und seinem Herzenswunsch, sich einmal ein eigenes Haus kaufen zu können.

Dieser einfache Wunsch, den man ihm kaum verwehren möchte, macht ihn fast sympathisch, bis es genau dieser ist, der die Stimmung endgültig zum Kippen bringt. Der Mord kam Stefan S. teuer zu stehen. Als ihm die Filmemacher die Kosten vorrechnen, fällt seine Reaktion so aufrichtig wie abstossend aus. Leider könne er sich durch den Vorfall nun kein Haus mehr leisten. Spätestens zu diesem Zeitpunkt weiß man, dass von diesem Menschen keine Aussage der Reue zu erwarten ist. Und gleichzeitig merkt man, wie sehr einem das eigentlich wichtig erscheint. Doch soll uns das in erster Linie mit dem Bild dieses Mannes versöhnen, das wir uns von ihm gemacht haben. Im Grunde fragen wir uns: Wieso hat er das gemacht und können wir ihm verzeihen?

Formal begegnet der Film der Herausforderung, dass er seinen Protagonisten nicht zeigen darf und der auch nur sehr wenig von sich selbst preisgibt, mit der Verwendung einer Erzählerstimme. Während die Aufnahmen die Begegnungen zwischen den Autoren und Stefan S. zeigen oder mit vermeintlichen Alltagsbildern die Orte rekonstruieren, die für den damaligen Kriminalfall relevant waren, geben die beiden Regisseure abwechselnd die Resultate ihrer Hintergrundrecherchen preis. Sie erzählen auch von ihren eigenen Gefühlen im Umgang mit dem Protagonisten.

Als weiteres Stilmittel nutzen sie eine Puppe, die sie stellvertretend für Stefan S. dazu bringen können, sich zu präsentieren. Die Lebensstationen von Stefan S. und seine tagebuchartigen Erzählungen spielen zwei professionelle Puppenspielerinnen nach. Puppen spielen in der Therapie keine unwesentliche Rolle, durch sie können die Patienten eine gewisse Distanz zum Erlebten aufbauen, um es besser zu verarbeiten. Vielleicht konnten die Autoren von einer ähnlichen Wirkung profitieren, für die Zuschauer hat es eher etwas Verstörendes, dieser hässlichen Puppe dabei zuzusehen, wie sie sich verrenkt, und der begleitenden monotonen Stimme zuhören zu müssen.

Inhaltlich wie formal ist Stefan Kolbe und Chris Wright mit Anmaßung ein dichter Dokumentarfilm gelungen, dessen etwas längere Dauer nicht sonderlich auffällt. Immer mehr nimmt der Film an Spannung zu und überzeugt durch ein durchdachtes ästhetisches Konzept, das sowohl statische Einstellungen wie die Handkamera einbezieht. Seine Stärke liegt entschieden in der Komplexität seiner Aussage, die weder in einer naiven Verharmlosung der beschriebenen Straftat noch in einem Pamphlet für strengere Strafverfolgung mündet. Vom Zuschauer fordert er ein konstantes Ausloten der eigenen Überzeugungen und Empfindungen.

Anmaßung (2021)

Stefan S.  sitzt in einem Brandenburger Gefängnis, lebenslang. Freigang ist möglich, die Entlassung auf Bewährung eine Perspektive, obwohl die Schuld schwer wiegt. Nachdem er sie gestalkt hatte, tötete Stefan S. eine Arbeitskollegin. Wer beschäftigt sich gern mit einem Verbrecher? Wer möchte ihn überhaupt sehen?

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