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Alejandro G. Iñárritu erzählt in „Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten“ von einem Filmemacher mit übergroßen Ambitionen und ebenso gewaltigen Zweifeln: ein Werk der unauflöslichen Widersprüche.

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

„Ich träume dich…“

Die Wüste. Unendliche Weiten. Wir schreiben das Jahr 2022. Dies sind die Abenteuer des Journalisten und Dokumentarfilmers Silverio Gama (Daniel Giménez Cacho), der mit seiner Kamera unterwegs ist, um die Geschichte seines Heimatlandes zu erforschen. Aber dringt er dabei auch in etwas vor, was nie ein Mensch zuvor gesehen hat?

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten beginnt mit Bildern, die der Egoperspektive in Videospielen nachempfunden zu sein scheinen. Wir rennen, springen und schweben durch die mexikanische Wüste, hören das Schnaufen des Protagonisten aus dem Off und nehmen dessen Schatten auf dem Erdboden wahr. Kurz darauf sind wir im Kreißsaal. Silverios Frau Lucia (Griselda Siciliani) bringt den gemeinsamen Sohn Mateo zur Welt. Aber Halt! Der Neugeborene hat Einwände. Diese Welt sei ihm dann doch zu abgefuckt, danke. Er wolle wieder zurück… Also wird der Kleine kurzerhand zurück in den Mutterleib befördert. „Und jetzt?“ Ach, na ja – Lucia nimmt es erstaunlich gelassen.

Und dann gleich noch mal ein Szenenwechsel: Silverio sitzt in der Metro in Los Angeles. Auf seinem Schoß ein Plastikbeutel mit Wasser und drei Axolotl. Plötzlich platzt der Beutel und die ganze Bahn ist überflutet. Silverio landet unversehens in seinem Zuhause, das sich wiederum als offene Kulisse irgendwo im Nirgendwo entpuppt.

Puh, das waren nun gerade mal die ersten Minuten des neuen Werks von Alejandro G. Iñárritu – und wir sind ehrlich gesagt schon jetzt ein bisschen erschöpft. Aber das war ja nur ein Traum des Helden und im weiteren Verlauf wird es weniger ungestüm, richtig? Hm, nein. Das Drehbuch, das der 1963 in Mexiko-Stadt geborene Filmemacher gemeinsam mit Nicolás Giacobone verfasst hat, und die Inszenierung lassen Silverios Fantasien und Träume sowie dessen eigene filmische Welten, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, das Dies- und Jenseits beständig ineinanderfließen. Die Ebenen wechseln sich nicht einfach ab, sie sind immer Teile des Ganzen. Gewiss ließe sich jede Einstellung von Bardo analysieren – doch ob dieser Film überhaupt darauf ausgelegt ist, en détail studiert zu werden, darf bezweifelt werden.

Das kann gerne als prätentiös empfunden werden. Bereits der ausufernde Titel ist, ähnlich wie Birdman oder (Die unverhoffte Macht der Ahnungslosigkeit) (2014), ein kleines (Schmunzel-)Monster. Der Begriff Bardo stammt aus dem tibetischen Buddhismus und bedeutet Zwischenzustand. Ach herrje, echt jetzt? Würde man Iñárritu vorwerfen, dass das ja schon ein bisschen aufgeblasen ist, würde er vermutlich nicht einmal widersprechen. Der Film nimmt sich deutlich weniger ernst als The Revenant (2015). Er will uns nicht mit seiner audiovisuellen Wucht erschlagen, will uns nicht den Sinn des (Über-)Lebens erklären. Er führt uns in den Kosmos eines Filmemachers, bei dem alles stets sehr, sehr groß gedacht sein muss, der aber allmählich erkennt, dass er auf die drängenden Fragen des Daseins letztlich auch keine schlauen Antworten zur Verfügung hat.

Silverio befasst sich in seinen Filmen mit der spanischen Eroberung Mexikos unter Hernán Cortés und dem daraus resultierenden Untergang des Reiches der Azteken. Er hat die noch immer herrschende Armut und Ungerechtigkeit in seinem Heimatland dokumentiert. Und kann sich gerade deshalb seit mehr als zehn Jahren mit seiner Frau, seiner erwachsenen Tochter Camila (Ximena Lamadrid) und seinem jugendlichen Sohn Lorenzo (Íker Sánchez Solano) ein Luxus-Leben in L.A. leisten. Das ist natürlich völlig absurd. Nun soll ihm als erstem Mexikaner ein wichtiger Medien-Award verliehen werden. Zuvor soll er in der Live-Show eines ehemaligen Fernseh-Kollegen in Mexiko-Stadt auftreten.

Bardo steckt voller Spielereien. Gelegentlich spricht Silverio in Dialogen nicht mit seinem Mund, sondern via Voice-over – was von den anderen Figuren jedoch bemerkt und umgehend moniert wird. Auch ist Silverio offenbar in der Lage, unliebsamen Personen gewissermaßen die Stimme zu nehmen – was natürlich eine ziemlich unreife Allmachtsfantasie ist. Auf der Tanzfläche hört der Protagonist als Einziger (beziehungsweise zusammen mit uns) den Song Let’s Dance. Das alles ist im wahrsten Sinne des Wortes und im vollen Bewusstsein eine Ego(ismus)-Perspektive. Silverio ist keineswegs ein lupenreiner Sympathieträger.

Allerdings – und das macht diese Ich-Bezogenheit dann doch erträglich – ist Bardo kein zynischer Film. Die Szene mit dem unwilligen Neugeborenen, auf die in späteren Passagen erneut Bezug genommen wird, hat einen Hintergrund, der durchaus zu berühren vermag. Auch Silverios imaginierte Begegnung mit seinem verstorbenen Vater ist bei allem technischen Aberwitz (Der Kopf des heutigen Silverio steckt hier auf einem Kinderkörper) einnehmend.

„Ich träume dich“, wird in einer anderen Fantasieszene gesagt – und mit dieser Idee des Traumkonstrukts kommen wir dem Film vielleicht am ehesten bei. Nicht von etwas träumen, sondern schlichtweg etwas träumen. Über Träume wurden schon dicke, disputable Bücher geschrieben. Vielleicht ist alles in ihnen (den Träumen und den Büchern) wichtig, vielleicht aber auch alles der totale Nonsens. Es wird Leute geben, die Bardo als Meisterwerk bezeichnen werden – und Leute, die meinen werden, dieser Film habe absolut nichts zu sagen und sei ein einziges Eitelkeitsprojekt.

Ja, muss das denn wirklich sein, diese maßlos überzogene Fülle an Eindrücken, dieses Aufstapeln von Meta-Ebenen? Nein, gewiss nicht. Eine Filmkritik muss auch nicht mit einem variierten Star-Trek-Zitat beginnen. Ist doch albern. Aber vielleicht sagt es etwas aus, wenn der Verfasser dieser Zeilen mit diesen Worten einsteigt? Tja, wer weiß. (Ich! Ich!)

Bardo, die erfundene Chronik einer Handvoll Wahrheiten (2022)

Eine Chronik der Ungewissheiten, in der die Hauptfigur, ein renommierter mexikanischer Journalist und Dokumentarfilmer, in sein Heimatland zurückkehrt und sich mit seiner Identität, familiären Beziehungen, der Torheit seiner Erinnerungen sowie der Vergangenheit und neuen Realität seines Landes auseinandersetzt.

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