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Harald Mühlbeyer stammt aus der Gegend von Heilbronn. Und dort wurde auch Verlorene gedreht, im Dialekt. Das macht den Film von Anfang an sympathisch. Aber manchmal muss man als Kritiker auch über Sympathien hinwegsehen und sagen, wie’s ist.

Verlorene (2018)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Familienliebe

„Bei uns wird g’schafft!“ Maria (Maria Dragus) ist resolut. Sie muss die Mutterrolle einnehmen. Und Valentin, dem Zimmermann auf der Walz, der sich für ein paar Wochen einquartiert, gleich mal weisen, wo’s langgeht. Aber natürlich weiß sie das selbst nicht. Weil sie verloren ist im Leben, weil ihre Schwester verloren ist, weil sie alles verloren haben, was sie haben, ohne es zu wissen. Denn auch der Vater ist einer dieser Verlierer. Verlorene heißt der Debütfilm von Felix Hassenfratz, und irgendwo zwischen Erwachsenwerden, erwachender Sexualität, zwischen Familienliebe und Archaik verliert sich sein Film.

Maria spielt leidenschaftlich Orgel. Am Anfang sehen wir sie vor einem Vorspiel im Konservatorium. Bach liegt ihr im Blut, doch jetzt blutet sie erstmal am Ärmel, als sie aus der Toilette kommt. Die Schwester Hannah (Anna Bachmann) ist besorgt. Spricht ihr Mut zu. Aber Maria weiß: Wenn sie angenommen wird, ist das ihr Weg raus aus der Familie, aus dem Kaff, in dem sie geboren war. Das ist es, was an ihr nagt.

Aber das wissen wir noch nicht. Noch eine Weile nicht. Denn zunächst folgen wir Hannah, der jüngeren Schwester. Die sich ausprobiert in ihrem Menschsein, die ihre Sexualität erwachen bemerkt, die abends mit den Freundinnen abhängt bei Alkohol und Pillen und vom ersten Mal träumt. Und der an ihrer Schwester Maria einiges auffällt. Mit Nähnadeln scheint sie sich zu verletzen, untenrum. Daher immer wieder das Blut an ihren Kleidern. Und wenn Hannah die Schule schwänzt, dann sieht sie sie im Wald, mit dem Vater (Clemens Schick). Maria ihrerseits fühlt sich langsam, aber sicher Valentin (Enno Trebs) nahe. Vielleicht, weil der sowieso nur ein paar Wochen da bleibt. Vielleicht auch, weil er so frei scheint. Weil er gehen kann, wohin er will. Und weil sein Opa Orgelbauer war, weil er ihr geheime Plätze hinter den Orgelpfeifen zeigt …

Wir ahnen da längst, wohin der Hase läuft. Die vielfältig verteilten Eifersüchteleien; die Blicke, die die Figuren einander zuwerfen. Und wenn der Vater seiner Tochter eine Kreuz-Halskette seiner verstorbenen Frau schenkt … Der Inzest ist greifbar nahe, und wir sind längst nicht so erschrocken wie Hannah, als wir dahinterkommen. Als sie nämlich Schwester und Vater im Akt erwischt, in der Holzfällerhütte im Wald.

Eine Viererkonstellation: Die Liebe unter den Schwestern. Die Liebe zu Valentin. Die Liebe des Vaters. Womit wir beim eigentlichen Thema des Films angekommen sind: Das irgendwie ein archaisches Verhältnis zwischen Mann und Frau behauptet, wo die Geschlechtlichkeit stets im Wege ist und doch unausweichlich sich Begehren und Entziehen, Macht und Hingabe bedingen. Dazu dann dieses moralische Dilemma: Wenn Maria aufhören wollte, würde sich der Vater nicht über die kleine Schwester hermachen? Und andererseits: Wie kann sie normales Verliebtsein, normales sexuelles Erwachen mit Valentin erleben? 

Hassenfratz hat sich viele Gedanken gemacht. Zu viele. Verlorene ist überladen mit Symbolik: Die Balken im Dachstuhl, den Valentin und der Vater – Zimmermannsmeister – verschieben. Die Bach-Lieder von Jesu Leiden. Oder die Ritze zwischen den Latten, durch die Hannah ihre Schwester und den Vater beobachtet … Eine urgründige, universelle, im Grunde alttestamentarisch einfache Geschichte will Hassenfratz erzählen; und verortet sie zugleich im Heute, an ganz spezifischen Orten, in einem spezifischen schwäbischen, christlich geprägten, dörflichen Milieu. Irgendwie will das alles nicht zusammenpassen. Irgendwie wirkt die Konstellation des Films einerseits zu konstruiert, andererseits zu abgeschmackt. Wäre nahe am Klischee, würden die Protagonisten nicht im süddeutschen Dialekt reden – was im deutschen Kino wie im deutschen Fernsehen sonst nicht vorkommen darf. Wäre mit weniger sophistication ein vielleicht durchaus wuchtiges Drama (man stelle sich statt Clemens Schick den Bierbichler Sepp vor!). Trifft aber andererseits gerade nicht den Diskurs um Macht- und Sexmissbrauch der #metoo-Debatte. Und steckt so verloren zwischen den Stühlen fest.

Verlorene (2018)

Maria liebt es, auf der Orgel Bach zu spielen. Zu Hause lastet indes viel Verantwortung auf ihr: zum einen für ihre zwei Jahre jüngere Schwester, die dem Heimatdorf entfliehen will, zum anderen für ihren Vater. Nach dem frühen Tod der Mutter leben die beiden ungleichen Schwestern allein mit ihm in der süddeutschen Provinz.

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Meinungen

Hubertus · 17.12.2018

Ich habe Verlorene auf dem Filmfest in Biberach gesehen, kein einfacher Film aber er hat mich sehr berührt. Ich weiss nicht welchen Film derjenige gesehen hat der die Kritik verfasst,, aber mein Filmerlebnis war ein ganz anderes. So emotional und ohne die Menschen zu verurteilen. Ich fand den Film sehr sehr sehenswert!