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Die Reemtsma-Entführung beherrschte 1996 wochenlang die Schlagzeilen der deutschen Presse, 22 Jahre später schrieb der Sohn des Entführten, Johann Scheerer, ein Buch aus Sicht der Angehörigen. Hans-Christian Schmid hat dieses jetzt verfilmt – einfühlsam und eindringlich zugleich.

Wir sind dann wohl die Angehörigen (2022)

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Aus der Innenperspektive

Das Wunderbare am Jungsein ist, dass man so wenig weiß von der Welt, von ihren Grausamkeiten und Gefahren. Kinder und Jugendliche haben Angst, kuscheln sich zu den Eltern ins Bett, wenn es blitzt und donnert, oder fürchten sich vor der nächsten Lateinarbeit. Der 13-jährige Johann aber muss in 33 Tagen lernen, was Angst noch alles sein kann und was sie mit einem macht, wenn sie Besitz von einem ergreift. Sein Vater, Millionenerbe Jan Philipp Reemtsma, ist entführt worden, davon darf er niemandem erzählen; die Polizei ist eingezogen ins Zuhause, und jeder Telefonanruf könnte der letzte sein.

Zehn Jahre nach Was bleibt hat Hans-Christian Schmid endlich wieder einen Film gemacht: Wir sind dann wohl die Angehörigen. Die Geschichte einer Entführung erzählt die Geschichte der Reemtsma-Entführung aus der Innenperspektive der Familie. An einem Abend im März 1996 wird Jan Philipp Reemtsma vor seinem Haus in Hamburg-Blankenese überwältigt und entführt. Die Täter hinterlassen ein Schreiben, das sie mit einer Handgranate beschweren und in dem sie 20 Millionen D-Mark fordern, eine Summe, die später noch erhöht werden wird. Reemtsmas Frau, Ann Kathrin (Adina Vetter), findet die Lösegeldforderung, spricht mit dem Anwalt der Familie und Vertrauten ihres Mannes, und informiert auch sofort Sohn Johann (Claude Heinrich): „Wir müssen jetzt ein Abenteuer bestehen.“

Das Abenteuer ist ein seltsames: Angehöriger einer entführten Person zu sein. Die Rolle der Angehörigen scheint zunächst einmal eine passive zu sein, die mit viel Warten, Geduld und stiller Verzweiflung zu tun hat. All das wird in Schmids Film deutlich und schmerzlich erfahrbar. Aber, auch das offenbart der Spielfilm, Angehöriger zu sein, kann ebenso bedeuten, tatkräftig mitzumischen, eigene Strategien zu entwickeln, Grenzen zu übertreten, über seine Kräfte hinauszuwachsen – gerade dann, wenn die Polizei immer wieder Fehler macht, wie dies im Fall Reemtsma passiert ist.

Auch auf diese Fehler macht der Film aufmerksam. Aber er klagt nicht an. Ihm geht es nicht um eine Kritik am Handeln von Polizei und staatlichen Behörden. Er konstatiert deren Interessen und Vorgehensweisen, lässt aber vor allem die Angehörigen sprechen, lässt sie anklagen und verzweifeln, ihr Unverständnis äußern und immer wieder Fragen stellen. Es ist Perspektive der Angehörigen, die im Titel steckt und um der es Schmid hauptsächlich geht.

Der Film basiert auf dem gleichnamigen Buch von Reemtsmas Sohn, Johann Scheerer, das dieser 22 Jahre nach der Entführung veröffentlicht hat. Er nimmt an vielen Stellen die Sicht des 13-Jährigen ein, zunächst das schwierige Verhältnis zum intellektuellen Vater, dann die Einsamkeit, Hilflosigkeit und Angst des Jugendlichen, der das Ermittlungsgeschehen im Haus natürlich beobachtet und mithört, aber nicht mitmachen darf, der sich raushalten und möglichst wenig von all dem mitbekommen soll. Christian (Hans Löw) kommt extra aus Frankfurt und soll ihn ein wenig ablenken, seine Freunde aber darf Johann nicht sehen und nicht einmal selbst an der Tür abwimmeln. Zur Schule geht er auch erst einmal nicht mehr. Claude Hinrich spielt diesen Johann und das Hineingeworfensein in die ungewöhnliche Situation des Angehörigenseins unheimlich überzeugend.

Gleichzeitig zeigt Wir sind dann wohl die Angehörigen, was die Entführung mit der Ehefrau, ebenfalls großartig gespielt von Adina Vetter, und den anderen Beteiligten macht. Alle wollen sie einander helfen, das gemeinsam durchstehen und die Sache zu einem, dem einzigen guten Ende führen: Die Freilassung von Jan Philipp erwirken. Und alle machen Fehler, sind nervös, schlafen zu wenig, handeln im Affekt. Besonders deutlich wird das an Freund Johann Schwenn (Justus von Dohnányi), aber auch an Christian: Wie sie weit über ihre Grenzen gehen, letztendlich aber nach Hause gehen können, wenn sie es nicht mehr schaffen. Ann Kristin kann das nicht, sie muss da bleiben und ‚da durch‘ bis zum Ende – egal wie dieses aussehen mag. Hans-Christian Schmid wirft eine kammerspielartige Enge auf die Leinwand, die er die Darsteller:innen grandios vermitteln lässt.

Der Film erzählt seine Geschichte in einfachen, klaren Bildern. Das Sounddesign ist ein ruhiges, an einigen Stellen aber auch eindringliches, was man jedoch wiederum fast nicht wahrnimmt; das kaum merkbar eindringt, Stimmung erzeugt und einen die Isolation des Familien-Polizei-Gespanns, aber auch die Angst der Angehörigen intensiv nachspüren lässt. Das Vertrauen in die Welt, wie sie vor der Entführung war, ist über Nacht zerbrochen und kann so schnell nicht wiedergewonnen werden. Was den Figuren lange bleiben wird, ist ein neuer Blick auf die Welt, eine neue Form der Angst – und diese werden auch für das Publikum nachhaltig spürbar.

 

Wir sind dann wohl die Angehörigen (2022)

Am 25. März 1996 wird Jan Philipp Reemtsma entführt. Sein Sohn Johann (Claude Heinrich) und seine Frau Ann Kathrin (Adina Vetter) erleben mit, wie sich ihr Zuhause über Nacht in eine Einsatzzentrale verwandelt. Zwei Betreuer der Polizei (Yorck Dippe, Enno Trebs), der Anwalt der Familie (Justus von Dohnányi) und ein enger Freund (Hans Löw) bilden eine Schicksalsgemeinschaft, verbunden nur durch das gemeinsame Ziel, Johanns Vater möglichst schnell und unversehrt nach Hause zu holen.

Über vier Wochen wird Johann Zeuge, wie zäh das Ringen mit den Entführern ist, und die quälende Ungewissheit allen im Haus zu schaffen macht. Wie hält man die Sorge, die Angst und die Langeweile aus? Wie füllt man die Tage, wenn jederzeit alles passieren kann, man aber gleichzeitig zum Warten gezwungen wird?

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