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Jakob (Simon Frühwirth) ist 17. Der von inneren Dämonen geplagte Jüngling lebt zusammen mit seinem Vater (Josef Hader) und Großvater in einer tristen Wiener Wohnung und jobbt als Hilfskraft im Schlachthof. Als er den 26-jährigen Kristjan via Sex-Cam-Chat kennenlernt, beginnt seine Reise ins „Nevrland“

Nevrland (2019)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Haben Sie Wien schon bei Nacht gesehen?

Jakob (Simon Frühwirth) ist anders. Er spricht in den ersten 30 Minuten von Gregor Schmidingers fulminantem Langfilmdebüt „Nevrland“ kaum einen Satz, ist seltsam phlegmatisch und scheinbar nirgendwo wirklich zu Hause. Weder im Schlachthof, wo er gerade als billige Aushilfskraft etwas Geld dazu verdient, was aber auch nur durch die persönliche Beziehungen seines Vaters (Josef Hader) möglich war; noch abends unter der Bettdecke oder zwischendurch am Schreibtisch, wenn er vor dem Einschlafen durch zahllose Gay-porn-Websites surft: prinzipiell auf der Suche nach Liebe, mehr Abwechslung oder einfach nur etwas Geborgenheit in seiner weitgehend trist-melancholischen Wiener Umgebung.

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Doch auch seine immer länger werdenden Fluchten ins digitale Sex-Paradies können ihn nicht von seinen inneren Dämonen befreien: Denn Jakob, den der absolute Schauspielnewcomer Simon Frühwirth durchgehend faszinierend verkörpert, leidet an unterschiedlichen Angststörungen. Er fühlt sich tagein tagaus merkwürdig ausgeschlossen. Weder im verbalen Kontakt mit seinem hilflos-überforderten Vater noch bei der täglichen Fürsorge für seinen zunehmend senilen Großvater empfindet er echte Emotionen. Im stetig dichter werdenden Gefühlschaos zwischen Schweinehälften, die er teilnahmslos mit Wasser säubert, und seinem inneren Schrei nach Zärtlichkeit, der sich auch nicht durchs Onanieren vor dem Laptop verwirklichen lässt, lässt er sich eines Tages auf einen Sex-Cam-Chat mit dem adonisgleichen Kristjan (Paul Forman) ein.

Der amerikanische Beau versucht gerade in der Wiener Kunstszene als Videoartist Fuß zu fassen. Regelmäßig besucht er illegale Techno-Partys, bizarre Dark Rooms inklusive. Gerade in diesen mitunter delirierend in Szene gesetzten Sequenzen (Kamera: Jo Molitoris) im Stroboskop-Dauerfeuer und unterstützt durch einen wabernden Underground-Soundtrack des Wiener Produzenten und DJs Gerald VDH enthaltet sich das große visuelle Talent Gregor Schmidingers, der bisher als YouTube-affiner Independentfilmer in Erscheinung getreten war. Seine Kurzfilme The Boy Next Door (2008) und Homophobia (2012), beide mit queerem Kontext, wurden im Netz bereits mehr als 15 Millionen Mal geklickt.

In seinem starken Langfilmdebüt Nevrland, das nun im Rahmen des Spielfilmwettbewerbs beim 40. Max Ophüls Festival seine stürmisch gefeierte Weltpremiere erlebte, hat Gregor Schmidinger nach eigener Aussage viel Autobiografisches verarbeitet: Sein Vater ist ebenfalls Fleischhauer und er litt selbst viele Jahre unter massiven Angst- und Wahnvorstellungen. Und wer weiter zu seinem Namen im Netz recherchiert, erlebt einen ausgesprochen auskunftsfreudigen jungen Mann, der wie selbstverständlich über Potenz- oder Beziehungsprobleme, Dating-Apps oder Pornokonsum in und außerhalb der Schwulenszene spricht.

Von dieser Unbedarftheit lebt auch Nevrland im hohen Maße, der weder eine stringente Coming-of-age-Story noch ein reines Sozial- oder Jugenddrama erzählt. Vielmehr offenbart sich in dieser wunderbar verwinkelten Seelen- und Clubkulturgeschichte ein filmisch sehr zeitgemäßer Umgang sowohl mit den ständig verfügbaren Online-Sex-Portalen in den Weiten des Internets wie auch den zunehmenden psychischen Problemen vieler junger Menschen aus der Millenial-Generation, der keinesfalls alle Fragen beantwortet und in puncto Montage und Ausstattung Glanzpunkte setzt.

Ein weiterer Grund, warum Nevrland 2019 zu den stärksten Beiträgen des Saarbrücker Festivals zählt, ist schlicht und ergreifend der Name Simon Frühwirth, der sich durchaus begründete Hoffnungen auf den Preis als bester männlicher Nachwuchsdarsteller machen darf. Denn was dieser Schauspielneuling auf der Leinwand vollbracht hat, schreit bereits jetzt nach einer hoffentlich baldigen Fortsetzung. In seinen markanten Gesichtsausdrücken spiegelt sich im Grunde das ganze Psycho-Drama aus Schmidingers Film gekonnt wider. Ihm wie Gregor Schmidinger wünscht man daher auch abseits der 40. Festivalausgabe viele zukünftige Projekte. Hier stimmt der Rhythmus und die österreichische Filmszene darf sich über zwei weitere großartige Talente freuen. Bam bam bam!

Nevrland (2019)

Jakob ist 17 Jahre alt, verunsichert und von Ängsten geplagt. Er flüchtet deshalb gerne in virtuelle und fiktive Welten. Eine vermeintlich zufällige Begegnung mit dem faszinierenden jungen Künstler Kristjan in einem Sex-Cam-Chat führt zu einem schleichend Prozess der Selbstfindung, der ihn zunehmend mit seinen eigenen Ängsten konfrontiert. Nach dem Tod seines geliebten Großvaters beginnen sich seine Ängste, seine Hoffnungen und die Realität immer mehr unentwirrbar zu vermischen und der Entwicklungsprozess wird zu einem existentialistischen Trip in sein eigenes Inneres. Schließlich stellt sich ihm die Frage, ob Kristjan überhaupt real oder lediglich ein weiterer Aspekt seiner eigenen Phantasie ist.

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Meinungen

Agnes Orbach · 16.09.2019

Sehr enttäuschend, eine Geisterbahnfahrt ohne fundierte Erzählstruktur

Inge Mißler · 22.01.2019

Ich habe den Film am So.zum Abschluß des Ophüls-Festivals in Saarbrücken gesehen und war überwältigt von der Darstellung des Jugendlichen durch Simon Frühwirth und von der filmischen Umsetzung der Angsterkrankung .Da ich das Thema Depression und Angsterkrankung aus meiner Familie leider sehr gut kenne,bin ich sehr glücklich über diesen Film,der vielleicht auch jungen Menschen hilft, sich zu outen und therapeutische Hilfe anzunehmen, was nach meiner Erfahrung Jungen und Männern besonders schwer fällt.Wenn dadurch auch nur 1 Suizid verhindert wird, ist der Film auch deshalb schon die Auszeichnung beim Ophüls-Festival wert.Simon Fürwirth ist nicht nur ein großartiger Schauspieler,sondern auch ein authentischer junger Mann,der sicher noch eine Karriere vor sich hat.Ich wünsche ihm, daß er sich dabei nicht verbiegen läßt, sondern so offen und echt bleibt,wie ich ihn in Bous im Interview nach dem Film kennenlernen durfte.Solche junge Menschen trifft man selten.