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In zwölf Kapiteln plus Prolog und Epilog forscht Joachim Trier im letzten Teil seiner Oslo-Trilogie der Sinnsuche einer jungen Frau nach, die sich allzu oft den Vorstellungen anderer unterwirft.

Der schlimmste Mensch der Welt (2021)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Becoming Julie

Wie wird man eigentlich, was man ist? Ist es eigenes Handeln, sind es Entscheidungen und Entschlüsse, die man gezielt und planvoll in die Tat umsetzt, oder sind es nicht vielmehr Zufälle und äußere Einflüsse, die unseren Lebensweg bestimmen? Ist man selbst Herr oder Frau des eigenen Schicksals oder sind wir einem wie auch immer zu verortenden Geschick hilflos ausgeliefert? Dies sind die großen, die existenziellen Fragen, die der norwegische Regisseur Joachim Trier im letzten Teil seiner Oslo-Trilogie („Auf Anfang“, 2005; und „Oslo, 31. August“, 2011) verhandelt — und er tut dies auf so betörende Weise, dass ihm damit einer der schönsten Filme des diesjährigen Jahrgangs in Cannes gelingt.

Streng gegliedert in zwölf Kapitel plus Prolog und Epilog erzählt der Film — und damit unterscheidet er sich sehr elementar von der Multiperspektivik von Oslo, 31. August - vom Leben einer einzigen Protagonistin, einer jungen Frau Ende 20 namens Julie (Renate Reinsve), die gerade erst dabei ist, ihren Weg ins Leben zu finden. Überwältigt von der Fülle der Möglichkeiten, die ihr offenstehen, gerät sie immer wieder ins Zaudern, in Stocken und revidiert schnell genau das, von dem sie vorher überzeugt war, dass es die absolut richtige Wahl war für sie. Es ist die Resignation einer Generation Netflix, die auf Knopfdruck alles (oder zumindest sehr viel) haben kann und die gerade angesichts dieser unfassbar vielen Möglichkeiten unsicher wird und ins Schwanken gerät. 

Und so driftet Julie durchs Leben, bricht ein Medizinstudium ab, weil sie sich dann doch Lieber der Psychologie als Heilkunde für die Seele verschreibt, um dann kurz darauf auf Photographie umzusteigen und zum Überleben einen Nebenjob bei einer akademischen Buchhandlung anzunehmen. 

Ähnlich unstet verhält es sich mit Julies Beziehungsleben, das parallel zu ihren beruflichen Perspektivwechseln zu verlaufen scheint. In der rasend schnell vollzogenen Exposition durchhastet der Film ihren Wechsel von der Medizin zur Psychologie, zeigt einen jungen Professor, und einen Wimpernschlag später sind die beiden auch schon ein Paar. Überhaupt erlaubt sich der Film auf sehr souveräne Weise rasante Tempiwechsel, rafft und zerdehnt, lässt Szenen und Sequenzen wie im Schnelldurchlauf herunterrattern, um dann wieder abrupt in Details zu gehen, Einstellungen an späterer Stelle erneut zu wiederholen, und hält doch stets souverän die erzählerischen Zügel auch mittels einer unaufdringlichen und erstaunlich gewitzten Voice-over-Narration in der Hand, erlaubt sich augenzwinkernde Tricks, indem die Stimme der Erzählerin in einem Moment genau das sagt, was im nächsten Moment gleich von einer Person ausgesprochen wird. 

Und dennoch bilden sich bei aller Rasanz und allem vermeintlichen Chaos doch mit der Zeit Linien heraus, Beziehungen, die sich im weiteren Verlauf als wichtig und prägend herausstellen wie etwa die zu dem um einiges älteren Comic-Autor Aksel (Anders Danielsen Lie), der die Beziehung am liebsten nach dem ersten Sex wieder beendet hätte, weil ihm Julie als zu unstet erscheint — und natürlich ist genau das der Moment, in dem sie sich endgültig in ihn verliebt. 

All dies geschieht so souverän und klug, so selbstbewusst  und voller Respekt für Julie und all die Menschen, dass es eine helle Freude ist, sich auf diesen Film und dieses chaotische Leben einzulassen — was auch, aber nicht ausschließlich an Renate Reinsve liegt, die in der Rolle der Julie eine der vielleicht besten Entdeckungen der letzten Zeit ist. Sie hält die Balance zwischen Schönheit und Verunsicherung, zwischen Tragik und Komik, Alltagsbanalität und ontologischer Sinnsuche in einem schwankenden Gleichgewicht, wie man ihn auf diese Weise und darüber hinaus als Generationsbeschreibung nur selten im Kino gesehen hat.

Der schlimmste Mensch der Welt (2021)

Die fast 30-jährige Julie lernt auf einer Party den jungen und energiegeladenen Eivind kennen. Nachdem sie die Nacht mit ihm nicht vergessen kann und ihm bald wiederbegegnet, verlässt sie ihren Freund Aksel, in der Hoffnung, mit Eivind etwas Neues und Bedeutsames beginnen zu können. Ein Jahr später erfährt sie, dass Aksel schwer erkrankt ist und besucht ihn im Krankenhaus.

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Meinungen

Hans im Glück · 19.06.2022

Ein toller Film, der Abseits des Mainstreams brillieren kann.
Man schaut gebannt von Kapitel zu Kapitel auf die Entwicklung, die Julie macht und ist von Anfang an daran interessiert, wie es wohl weitergeht.

wignanak-hp · 03.06.2022

Ich bin begeistert von diesem Film. Am Anfang ist man vom Verhalten von Julie etwas irritiert, doch im Verlauf des Filmes versteht man sie immer besser und verfolgt ihren Weg mit Interesse. Ich habe schon lange nicht mehr einen so ehrlichen Film gesehen, der ohne Klischees, sei es über Sex oder Familienplanung auskommt. Die Figuren wirken absolut authentisch, ebenso die Dialoge. Der Film ist vor allem eines: klug! Davon wünscht man sie mehr!