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Ist ein Leben, das bald zu Ende geht, nicht zu kostbar, um es mit Seelenschmerz und Abschiednehmen zu verbringen? Der Held dieses italienischen Dramas will seinem kranken Bruder die Wahrheit über seine Situation ersparen. Dabei klammert er sich nur selbst an seinen vertrauten Machbarkeitswahn.

Euforia (2018)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Kein Mann von Traurigkeit

Matteo (Riccardo Scamarcio) lebt in Rom als erfolgreicher Unternehmer. Die Nächte schlägt er sich gerne mit Drogen und wechselnden Liebhabern um die Ohren, sein Penthouse ist der Treffpunkt einer bunten Freundesclique. Matteo tut nur, was ihm Spaß macht oder verwandelt das, was er tut, in Spaß. Als er die Nachricht erhält, dass sein älterer Bruder Ettore (Valerio Mastandrea) unheilbar an Krebs erkrankt ist, weiß er sofort, was zu tun ist: Ettore darf nicht erfahren, was er hat, er soll an die Behandlung einer Zyste glauben und die baldige Genesung. Matteo holt den Bruder aus der Provinz zu sich, damit er sich von einem ihm bekannten Professor behandeln lassen kann.

Erst kürzlich ging es im Kinofilm The Farewell (2019) um die Frage, ob eine Familie der krebskranken Großmutter die Wahrheit sagen soll. Die in Amerika lebende Enkelin der Chinesin fand, das sollte sie, aber der Rest der Familie bestand darauf, ihr dieses Leid zu ersparen. Das entspricht der chinesischen Tradition, aber auch in Europa, wo man mehr zum Recht des Individuums auf Wahrheit und Selbstbestimmung neigt, äußern fürsorgliche Angehörige manchmal in dieser Streitfrage den Wunsch des Verheimlichens.

Matteos Gründe sind zunächst unklar. Auch später, als sich die Hinweise mehren, dass er einfach wie gewohnt das Unangenehme, das Scheitern und den Schmerz für sich ausblenden will, bleibt sein Handeln ein Stück weit unerklärt und damit offen für ambivalente Deutungen. Auch wenn sich Matteo hauptsächlich selbst schonen wollte, schwingt doch in der Entscheidung, den Bruder an die Hand zu nehmen und ihm ein möglichst sorgenfreies Lebensende zu bereiten, Zuneigung mit.

Nach dem Drama Miele von 2013, das in Deutschland nicht in die Kinos kam, hat die italienische Schauspielerin Valeria Golino – sie spielte 2019 die Comtesse in Porträt einer jungen Frau in Flammen – zum zweiten Mal Regie bei einem Spielfilm geführt. Euforia handelt von der Schwierigkeit zweier entfremdeter Brüder, sich im Angesicht des Todes anzunähern. Golino, die das Drehbuch mit den Co-Autorinnen Francesca Marciano und Valia Santella schrieb, versetzt sich sehr glaubwürdig in den Kosmos zweier Männer, die es gewöhnt sind, Gefühlen aus dem Weg zu gehen. Das Schweigen, das zwischen den Brüdern in Bezug auf den Tod, aber auch ihre gegenseitige Verbundenheit herrscht, erinnert an den spanischen Film Freunde fürs Leben von 2016. Dort besuchte ein Mann seinen krebskranken Jugendfreund für ein paar Tage, um Abschied zu nehmen. Das geschah dann gerade, indem die tiefgründigen, traurigen Worte konsequent vermieden wurden.

Ettore ist ganz anders als Matteo, verschlossen, unzufrieden mit seinem Leben, niedergeschlagen. Der Lehrer hat sich von seiner Frau Michela (Isabella Ferrari) getrennt und ist wieder zur Mutter (Marzia Ubaldi) gezogen. Er will nicht zu Michela und dem gemeinsamen Sohn zurückkehren, obwohl sie bereit ist, ihn nach seiner Affäre mit einer jüngeren Frau zurückzunehmen. Nach einer Untersuchung in der Klinik sagt er zu Matteo, er solle sie alle wegschicken, die Mutter, die Ehefrau, den Sohn.

Ahnt Ettore, wie es um ihn steht? Auch diese spannende Frage beschäftigt die Zuschauer*innen lange, schickt sie auf eine Schnitzeljagd möglicher Zeichen und Andeutungen. Ettore, der oft abwesend wirkt und einfach nur schlechte Laune hat, lässt sich von seinem Bruder mitziehen. Das luxuriöse Leben Matteos gefällt ihm. Nach anfänglichem Protest akzeptiert er sogar seinen Fahrer, für die Besuche in der Klinik. Sogar eine von Matteo initiierte Wallfahrt zur Marienerscheinung von Medjugorje macht er mit. Dort wirken die beiden Brüder zwischen all den frommen Pilgern fürchterlich deplatziert, aber sie schauen, staunen, kommen sich näher, obwohl dieser Ausflug scheinbar keine Folgen hat, denn nach ihrer Rückkehr machen sie weiter wie bisher.

Aber unterschwellige Animositäten, die die Brüder schon seit der Kindheit begleiten, drängen zum Vorschein. Sie suchen ebenso einen Ausdruck wie die vertraute Nähe, das diffuse Gefühl von Familie, das zwischen ihnen besteht. Linkisch tasten sich beide im Dialog vor, spötteln, deuten eine Balgerei an, wie es sie früher wohl öfter gab. Ettore, der Hetero, will wissen, wie Matteo mit Männern Sex hat. Matteo spielt den Ball zurück und will Ettore in diese Fantasie einbeziehen. Das geht dem Bruder zu weit, so persönlich mag er sich mit Homosexualität nicht befassen.

Riccardo Scamarcio verleiht dem Lebemann Matteo eine kindlich unbekümmerte Fröhlichkeit und Großspurigkeit, die ihre ansteckende Wirkung auf Ettore und das Filmpublikum nicht verfehlt. Zugleich aber lässt er ihn wie einen Getriebenen wirken, der sich vor der großen Leere schützt. Valerio Mastandrea ist als Ettore ebenso beeindruckend, denn dieser undurchschaubare Mann scheint kein Zentrum zu haben und auch der Erosion durch die Krankheit hilflos ausgesetzt zu sein. Einmal erzählt er von seiner Leidenschaft für das Tauchen. Auf das gefährliche, verlockende Freiheitsgefühl, das Taucher in großer Tiefe, vor der Entscheidung zwischen Leben und Verschwinden spüren, bezieht sich der Filmtitel.

Ähnlich wie die Figuren, nüchtern und beiläufig, aber auch ziellos, sucht die Kamera nach Orientierung. Die Bildausschnitte wirken relativ eng, die vielen verschiedenen Räume, die die Charaktere im Laufe eines Tages betreten und durchmessen, lassen sich nur zögerlich verorten und zuordnen. Abrupt werden die Schauplätze gewechselt, der Schnitt erzeugt einen zwiespältigen Gefühlseindruck, der sich als Unruhe, aber auch als Spaß am Surfen auf dem Strom der schnelllebigen Großstadt deuten ließe. Matteo und Ettore sind Repräsentanten der Gegenwart, sie teilen ihre – halb unbewusste, halb freiwillige – Entfremdung von sich selbst mit vielen anderen Menschen. Valeria Golinos Film schneidet viele spannende Themen an und schickt die Zuschauer*innen auf die Suche nach eigenen Antworten.

Euforia (2018)

Zwei Brüder, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten: Matteo ist ein weltgewandter und charmanter Unternehmer, sein zurückhaltender und schüchterner Bruder Ettore hingegen lebt immer noch in dem kleinen Provinznest, wo die beiden geboren wurden und ist dort Lehrer an einer Schule. Als sich die beiden Männer durch ein unvorhergesehenes Ereignis wieder annähern, entdecken sie, dass sie beide mehr verbindet, als sie bisher wahrhaben wollten. 

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