Log Line

In ihrem zweiten, autobiografisch gefärbten Spielfilm „The Farewell“ mit Awkwafina in der Hauptrolle beobachtet Lulu Wang die Dynamik in einer chinesischen Großfamilie, die vor einer emotionalen Herausforderung steht.

The Farewell (2019)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Abschiedsfeier

Wer einen traurigen, emotional aufwühlenden Moment filmisch in Szene setzen möchte, wählt als Schauplatz dafür höchstwahrscheinlich einen eher tristen Ort. In Lulu Wangs „The Farewell“ findet einer der eindringlichsten Monologe, in dem es um Verlust und Trauer geht, hingegen in einem Raum voller rosa- und lilafarbener Luftballons statt. Dies verleiht dem Geschehen nicht etwa etwas Albern-Lächerliches, sondern gibt dem Ganzen die nötige Portion Absurdität, die dem Leben zumeist innewohnt.

Überdies demonstriert die unerwartete Wahl der Ausstattung in dieser Passage Wangs Talent für tragikomische Wahrhaftigkeit. In ihrem Langfilmdebüt Die Kunst des Liebens (2014) setzte die Drehbuchautorin und Regisseurin auf Gefühlschaos in Screwball-Comedy-Manier und vermochte dem wüsten Plot durch klugen Dialogwitz mit Einfühlsamkeit zu begegnen; in The Farewell zeigt sie diese Fähigkeiten erneut, ist auf erzählerischer Ebene aber deutlich näher am Alltag dran. Sie hat hier eigene familiäre Erfahrungen verarbeitet – und ein Werk geschaffen, das, wie es heißt, auf einer „wahren Lüge“ basiert.

Mit kleinen Lügen beginnt es bereits in der Auftaktsequenz, als die Mittzwanzigerin Billi (wunderbar: Awkwafina) mit ihrer Großmutter Nai Nai (Shuzhen Zhao) telefoniert. Ob sie eine Mütze an diesem kalten Tag trage? Ja, gewiss doch, versichert Billi, während sie ohne Kopfbedeckung durch die Straßen von New York City läuft. Wo sie gerade sei? Bei ihrer Schwester, meint Nai Nai, die gerade im Wartebereich eines Krankenhauses in Changchun sitzt. Und bald folgt die große Lüge, die im Zentrum der Handlung steht. Nai Nai ist an Krebs erkrankt und wird voraussichtlich in wenigen Wochen sterben; die Familie will der Matriarchin ihren gesundheitlichen Zustand allerdings verheimlichen, um ihr Angst und Leid zu ersparen. Daher wird als Vorwand, um als Großfamilie rasch zusammenzukommen, kurzerhand eine Hochzeit für Billis Cousin Hao Hao (Han Chen) organisiert, obwohl dieser seine japanische Freundin Aiko (Aoi Mizuhara) erst seit ein paar Monaten kennt.

Billi war mit ihren Eltern Haiyan (Tzi Ma) und Lu Jian (Diana Lin) im Alter von sechs Jahren in die USA ausgewandert. Ihr Mandarin ist nicht perfekt – und viele chinesische Sitten und Bräuche sind ihr (inzwischen) recht fremd. Ein anderer Teil der Familie lebt seit langer Zeit in Japan. Doch nun treffen alle in Changchun ein, um unter dem Deckmantel einer pompösen Feier Abschied von Nai Nai zu nehmen. Insbesondere Billi zweifelt indes daran, ob diese Vorgehensweise wirklich richtig ist – oder ob Nai Nai nicht einfach die Wahrheit erfahren sollte.

Wang spielt das traditionelle Denken der Familie nicht gegen die westlich geprägten Ansichten von Billi aus. Sie beantwortet die Frage, ob es so etwas wie „gute Lügen“ gibt, nicht – und sie baut das Leben in den USA nicht als aufgeklärten Gegenentwurf zur chinesischen Heimat von Billis Familie auf. Als Billis Mutter am Esstisch eine überaus positive Anekdote aus der Zeit der Ankunft in den Vereinigten Staaten erzählt, wirft Billi ein, dass diese geschilderte Form der Offenheit keineswegs gängig in den USA sei. Und wenn Billis Onkel Haibin (Jiang Yongbo) seiner Nichte zu erklären versucht, weshalb er die Verheimlichung von Nai Nais Krankheit für den besten Weg hält, lässt das Skript ihn dabei nicht zur Witzfigur oder zum Bösen der Geschichte werden.

The Farewell steckt voller gelungener Details. Die Haupt- und Nebenfiguren sind liebevoll gezeichnet; ihre Interaktionen sind oft skurril, aber mindestens ebenso oft anrührend. Wie es sich für einen Familienfilm gehört, wird sehr ausgiebig gegessen – und immer wieder kommt es zu Augenblicken, in denen sich kleine, alltägliche Misstöne einschleichen. Beim Fotoshooting des jungen Hochzeitspaars einige Tage vor der Zeremonie platzt plötzlich ein anderes Paar in den Raum herein: Huch, sie haben sich verlaufen, entschuldigen sich die beiden und verschwinden ganz schnell wieder. Der Moment hat keinerlei Plot-Relevanz – und doch veranschaulicht er Wangs Art und Weise, einen zugleich irrwitzigen und rundum glaubwürdigen Kinokosmos zu kreieren, der den leisen Wahnsinn des Lebens äußerst clever einfängt.

The Farewell (2019)

Eine chinesische Familie entdeckt, dass die Großmutter nur noch kurze Zeit zu leben hat und lässt die alte Dame im Unklaren über ihren Zustand. Stattdessen wird kurzerhand eine Hochzeit veranstaltet, um die ganze Familie noch einmal zusammenzubringen.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Martin Zopick · 03.12.2020

Die Regisseurin Lulu Wong ist durchaus eine Sympathieträgerin doch ihr Film gehört in die Kategorie SchleFaZ. Diese Familiengeschichte über chinesische Auswanderer nach Amerika kommt meistens recht langweilig daher. Ohne Witz und Esprit dehnen sich die dialoglastigen Szenen schier endlos aus. Die Darsteller versprühen mit ihrem stocksteifen Habitus und der anhaltenden Gesichtslähmung den Charme von geschlossenen Eisschranktüren. Die Dialoge strotzen vor Allgemeinplätzen und machen den Plot recht unpersönlich. Dabei ist die Message doch klar: Großmutter hat Krebs im Endstadium und wird wohl nicht mehr lange leben. Alle wissen ist, doch keiner sagt es der alten Dame. Im Abspann erfahren wir dann, dass Oma noch viele Jahre lebt und es ihr gut geht. Das heißt dann wohl: wenn man eine deprimierende Diagnose erhält, sollte man sich keine Sorgen machen, denn vielleicht haben sich ja die Mediziner geirrt oder wir haben hier einen Fall von spontaner Selbstheilung?
Als Grund für dieses Familientreffen muss eine fingierte Hochzeit herhalten. Die Stimmung bei einer Beerdigung ist fröhlicher als hier auf dem Fest. Einziger Einschmeichler ist er Song im Abspann von Mariah Carey ‘Can’t Live Without You.‘ Der versöhnt die Zuschauer nach dem spröden Plot und einem Abschied, wie ihn der Titel verheißt, der keiner ist.

Dorothea · 01.01.2020

Ich bin froh, dass mich eine Freundin überredet hat, mir diesen Film anzusehen. Ich finde ihn in vielerlei Hinsicht sehenswert.
Nicht zuletzt finde ich die Einblicke in das heutige China sehr interessant. Auch die Musikvorlieben haben mich sehr überrascht.
Und ansonsten ist dieser Film einfaqch sehr gut gemacht. Sehr interessant. Ich war ganz überrascht, wie schnell er zu Ende war.
Mit bestem Gruß
Dorothea