Die Unsichtbare

Eine Filmkritik von Lena Kettner

Risse in der Hülle

Durchgefallen. Doch das ist nicht das Schlimmste für die Schauspielstudentin Fine. Wieder einmal hat sie niemand wahrgenommen, sie, das stille, unscheinbare Mädchen. Ein szenischer Abend an ihrer Schauspielschule soll Agenten und Regisseure auf die jungen Studenten aufmerksam machen. Ihre Kommilitonen geben alles, exponieren sich und haben keine Hemmungen. Fine hingegen wirkt wie ein Fremdkörper auf der Bühne, würde sich am liebsten in Luft auflösen. Noch ahnt sie nicht, dass dieser Abend eine entscheidende Wendung in ihrem Leben herbeiführen wird.
Denn einer im Publikum begreift, dass hinter dieser schüchternen Hülle eine schwarze Seele steckt: Kasper Friedmann, ein bekannter Regisseur. Zur Überraschung aller besetzt er Fine als Hauptrolle in seiner neuen Inszenierung, verbindet diese junge Frau doch auf den ersten Blick nichts mit der männerverschlingenden Camille. Es ist jedoch nicht das schauspielerische Potential der jungen Studentin, das Friedmann zu seiner Entscheidung bewogen hat. Er braucht eine form- und manipulierbare junge Frau, eine Frau mit starken inneren Zweifeln, die bereit ist, vollkommen mit ihrer Rolle zu verschmelzen. Eine Hyäne soll sie werden, jederzeit bereit zum Angriff.

Ähnlich wie in seinem Debütfilm Novemberkind (2008) thematisiert der Regisseur Christian Schwochow auch in seinem neuen Film Die Unsichtbare die schwierige Identitätssuche einer jungen Frau. Wenn Fine ihre blonde Perücke anlegt und ihr schwarzes Kleid überstreift, wird aus ihr Camille, eine Lulu des 21. Jahrhunderts, selbstbewusst und auf männlichen Beutefang fixiert. Aber auch mit einem großen Hang zur Selbstzerstörung. Ihr Nachbar ist ihr erstes Opfer, ein Tunnelbauer, dem Fine Camilles Worte ins Ohr haucht. Sie nimmt ihre Rolle ernst, so ernst, dass sie dafür bereit ist, sich Stück für Stück vor dem Regisseur zu entblößen – in physischer und psychischer Hinsicht.

Ulrich Noethens Regisseur Friedemann ist ein Sadist, der sich regelmäßig dem Alkoholkonsum hingibt. Er schläft mit Fine, quält sie in den Proben, zwingt sie schließlich eines Abends zu einer Schauspielübung, in der sie ihm ihre innersten Gedanken und Gefühle preisgibt. Fine lässt alles mit sich geschehen, denn sie will um jeden Preis Schauspielerin werden. Vielleicht, weil sie gar nichts anderes gewohnt ist, als eine Rolle zu spielen. Die Rolle der liebevollen Schwester, die sich um die geistig und körperlich behinderte Jule kümmert und sich dabei in der Vergangenheit nie einen Moment der Schwäche erlauben durfte, vor allem nicht vor ihrer überforderten Mutter.

Fines perfekte Hülle bekommt schnell Risse. So nötig ihre Auseinandersetzung mit sich selbst, mit ihren tief angestauten Aggressionen und ihrer Wut ist: weder ihre Mutter noch ihr Regisseur sind da, um sie aus dem Abgrund aufzufangen, in den sie immer tiefer hineinstürzt. Bis sie dem Tunnelbauer Joachim wieder begegnet, bei dem sie sich geborgen fühlt. Denn noch weiß er nichts von ihrem Doppelleben, ihrer Zerrissenheit zwischen Bühnen- und Familienleben. Die junge Dänin Stine Fischer Christensen, bekannt durch ihre Rolle der Anna im Familiendrama Nach der Hochzeit (2006) der dänischen Oscarpreisträgerin Susanne Bier, lotet in eindrucksvoller Weise die Extreme ihrer Figur aus, die in diesem gefährlichen Spiel beinahe die Kontrolle über sich selbst verliert. Christensens Fine bleibt über weite Strecken des Films eine Getriebene, der die unruhige Kamera auf Schritt und Tritt folgt. In ihrer Verzweiflung erstickt sie ihre Schwester beinahe mit einem Kissen und schneidet sich am Tag darauf die Pulsadern auf. Dieses Initiationserlebnis macht ihr begreiflich, dass sie ihr Leben endlich selbst in die Hand nehmen muss, wenn sie nicht länger eine Spielfigur ihres Regisseurs sein will. Und wenn ihre zarte Liebe zu dem Tunnelbauer Joachim eine Chance haben soll. Denn er, der für einige Zeit beruflich nach China reisen musste, weiß nicht, ob Fines Gefühle echt sind oder ob sie bei ihm nicht auch nur eine Rolle verkörpert hat.

Mit Die Unsichtbare hat Christian Schwochow ein intensives Drama um eine junge Frau geschaffen, die in der schmerzhaften Auseinandersetzung mit sich selbst den Weg aus ihrer „Unsichtbarkeit“ findet. Zum ersten Mal kann sie sich selbstbewusst auf der Bühne bewegen, als am Premierenabend alle Lichter auf sie gerichtet sind.

Die Unsichtbare

Durchgefallen. Doch das ist nicht das Schlimmste für die Schauspielstudentin Fine. Wieder einmal hat sie niemand wahrgenommen, sie, das stille, unscheinbare Mädchen. Ein szenischer Abend an ihrer Schauspielschule soll Agenten und Regisseure auf die jungen Studenten aufmerksam machen. Ihre Kommilitonen geben alles, exponieren sich und haben keine Hemmungen. Fine hingegen wirkt wie ein Fremdkörper auf der Bühne, würde sich am liebsten in Luft auflösen.
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Meinungen

generatoren · 09.05.2012

Schwochows “Unsichtbare” ist eine Hommage an die Schauspielkunst. Nur selten bekommt man eine derart erlesene Schaupielriege vor der Kamera zu sehen, wie hier, und auch wenn die filmischen Mittel in “Die Spielwütigen” oder “Unten Mitte Kinn” als erprobt angesehen werden müssen, bleibt die Bildkraft beeindruckend.

Mediolino · 20.02.2012

Die grandiosen schauspielerischen Leistungen und die Intensität des Films sind eindrucksvoll. Allerdings kann ich der letzten Endes verstörend positiven Wertung eines quasi therapeutischen Selbstfindungsprozesses nichts abgewinnen, an dem ein zynischer und egomanischer Regisseur als Therapeut fungiert und der seinen entscheidenden "Fortschritt" in einem zum Initiationsritus stilisierten Selbstmordversuch findet. Gerade darin finde ich den Film so platt und konstruiert, dass es weh tut. Schade.

Christine Durschang · 19.02.2012

Ich kann mich kaum erinnern, in einem deutschen Film so viele grandiose Schauspieler gesehen zu haben

Irmgard Sollinger · 09.02.2012

Ich habe den Film am 3.2.12 in Freiburg gesehen. Ich finde ihn viel besser als "Black Swan", mit dem er das Thema teilt. Psychologisch genau, ohne Plattitüden und ohne alles Reißerische. Ein herausragender Film.

Hank the Knife · 26.01.2012

Habe den Film gestern auf der Premiere in Berlin gesehen und war sehr beeindruckt. Zu der sehr guten Rezension von Lena Kettner möchte ich noch hinzu fügen, das sich zur Wucht und Intensität der Darstellung auch die überaus gelungenen Dialoge mit oft beissendem Humor loben lassen. Hier wurde ein exzellentes Buch kompetent und leidenschaftlich umgesetzt.
Einzig die permanent wackelnde Handkamera ist mir oft auf den Keks gegangen. Aber das ist ja Geschmakssache:) Unbedingt ansehen.

sonja thoma · 19.11.2011

Ich habe den Film in Hof gesehen - ein Wahnsinn" Lange keinen so intensiven deutschen Film gesehen!