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Bunte Farben, kitschige Motive, vermischt mit einem ernsten Ton: Ist das Camp oder kann das weg?

Lipstick on the Glass (2022)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Das Gegenteil von Subtil

„Experimentell“ ist kein normativer Begriff. „Ist das Kunst oder kann das weg“–Mentalitäten sind ebenso verkürzt wie das Lob von allem, was vom Standard abweicht. Wert liegt immer im Film an sich. So muss man sagen, „Lipstick on the Glass“ ist einfach kein guter Film, egal wie sehr er sich auch anstrengen mag, ganz anders auszusehen. Die Leinwand ähnelt einer Luke: lomografisches 4:3. Einen Zweck erfüllt dies allerdings nicht. Es ist eher der müde Versuch, eine Bedeutungstiefe zu erschwindeln. Handlung gibt es wenig, trotzdem passiert viel. Zusammenfassend ließe sich sagen: Frau flieht vor Ex-Mann.

Irgendwo in Polen. Der Film kippt ein neonfarbenes Puzzle vor seinem Publikum aus. Teile aus Religion, Sexualität, Gewalt, Begierde. Die Zuschauerinnen und Zuschauer bleiben sich selbst überlassen, wie sie es zusammensetzen wollen. Doch passt hier überhaupt etwas aneinander? Lipstick on the Glass ist so beliebig, dass diese Frage unbeantwortet bleiben muss. Muster bilden sich und arten nach kurzer Zeit ins Mechanische aus. Eine Szene, plötzlich dramatische Musik, Schnitt. Wieder von vorne. Zwischen den Schnitten suhlt man sich in loser Symbolik und tiefgründig wirkenden Gesten. Doch tiefer als ein Kruzifix, um auf Religion hinzuweisen, reicht es nicht. Auch einige der Kniffe, die der Film stolz anwendet, kennt man: Das enge 4:3 wird nach der Flucht Stück für Stück zum Widescreen – wer Mommy (2014) von Xavier Dolan gesehen hat, wird unbeeindruckt sein.

„Es war einmal eine Zeit, da hatte ich so viel zu sagen, aber sie hörten nicht zu“, sagt eine Figur im Film. Diese Worte ließen sich auch in den Mund des Regisseurs Kuba Czekaj legen. Vater-, Mutter-, Niemands- und Einheitsland werden als Begriffe durch den Raum geworfen. Sie bilden eine grobe, kapitelartige Struktur. Verhandelt wird vor allem ein mutierter Begriff der Heimatlosigkeit. Das Polen der Jetztzeit, gewisse Klischees werden bedient und eine allgemeine Ablehnung der Jugend gegenüber dieser Kultur präsentiert: „Spreche nicht Polnisch mit mir“, sagt die zweisprachige Tochter zu ihrer polnischen Mutter.

Der Film beschreibt sich selbst als „Trashy, sizzling, campy and naughty“. Damit im Hinterkopf kann man sich zurücklehnen und die im Grunde kitschigen Bilder in einem neuen Licht sehen. Doch wohnt den Szenen dieses Films eine solche verkrampfte Ernsthaftigkeit inne, dass man beinahe nicht auf die Idee käme, man könnte es hier mit Ironie oder Camp zu tun haben. Filme wie Mandy (2018) oder Lux Aeterna (2019) hingegen erzeugen Subversion, indem sie das Publikum auf die falsche Fährte locken, plötzlich Genre oder Form wirkungsvoll ändern. Es ist höchst bedauerlich, dass man bei Lipstick on the Glass den Pressetext lesen muss, um diese Möglichkeit der Einordnung überhaupt eröffnet zu bekommen: Subversion mit erklärender Ansage.

In diesem Sinne kann der Film nicht für sich allein stehen. Er braucht Stützräder. Die vier oben genannten Adjektive, die den Film beschreiben sollen, passen außerdem vielmehr auf Camp-Urgesteine wie Pink Flamingos (1972). Solche Filme funktionieren, weil sie sich nicht hinter ihrem künstlerischen Anspruch verstecken.

Gegen Ende des Films lassen sich einige der Absurditäten als assoziatives Psychogramm lesen – zuletzt führt alles also doch auf gewisse Bedeutungsebenen zurück: Das Filmschauen wird Traumlogik. Eine einzelne Szene sticht dabei besonders heraus: Das suspiria-eske Aufeinandertreffen von Protagonistin und „Der Mutter“, einer Überfigur, die das Frausein an sich darstellen soll. Die Protagonistin wird so lange geschlagen, bis sie aufgibt eine Mutter zu sein und sich wieder ihrem eigenen Leben hingibt. Transzendente Musik, rotes Licht und eine Aussage, die entzifferbar ist – die Szene zeigt, wie viel Potenzial Lipstick on the Glass gehabt hätte. Schauspielerisch bleiben beinah alle Figuren in ihrem geschriebenen Gefängnis, nur Lena Lauzemis, die das Objekt der Begierde der Protagonistin spielt, scheint aus diesem ausbrechen zu können. Ihr Spielen erinnert an Tilda Swinton.

Ein weiterer interessanter ästhetischer Versuchsaufbau ist das wiederkehrende Verschmelzen von zunächst völlig differenten Bildern. Diese leuchten durcheinander, werden transparent, nehmen sich die Sichtbarkeit und erzeugen dabei für den Bruchteil einer Sekunde neue Bilder – im Verbund ihrer Durchlässigkeit. Allerdings ist dies nicht über beinahe zwei Stunden aufrechtzuerhalten, ohne zu einer belanglosen Diashow zu werden.

Was bleibt, ist ein Film, der sich in seinem Kitsch teils selbst missversteht. Die polnische Filmlandschaft hat dabei so viel mehr zu bieten. So zeigte Jerzy Skolimowski mit seinem Film EO (2022), wie Neonfarben, Surrealismus und High-Konzept-Film funktioniert. Die kitschigen Bilder, überladen mit behaupteter Bedeutungsschwere, lassen indessen nur einen Satz über Lipstick on the Glass zu: „Ist das Camp oder kann das weg?“

 

Lipstick on the Glass (2022)

Fasziniert von einer geheimnisvollen Figur mit dem Namen The Something verliert eine Frau die Kontrolle über ihr Leben und begibt sich auf eine abenteuerliche Flucht, bei der sie ihren Mann und ihre Tochter zurücklässt. Die treibt sie schließlich in die Arme einer mysteriösen Frauensekte, deren düstere Machenschaften sich ihr nach und nach erschließen.

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