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Zeno Graton schildert in „Le Paradis“ auf betont zärtliche Weise, wie sich zwei junge Häftlinge ineinander verlieben.

Le Paradis (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Un rap d’amour

Jean Genets Kurzfilm „Ein Liebeslied“ (1950) offenbarte die Homoerotik einer Gefängnisumgebung, die auch heute noch in Werken wie Sebastián Muñoz’ „Der Prinz“ (2019) oder Sebastian Meises „Große Freiheit“ (2021) ein gängiges Motiv ist. Der belgische Regisseur Zeno Graton erzählt nun in seinem Debütfilm „Le Paradis“ zusammen mit seiner Co-Autorin Clara Bourreau von zwei jungen Männern in einer Jugendstrafanstalt, die eine romantische Zuneigung zueinander entwickeln.

Zu Beginn unternimmt der 17-jährige Joe (Khalil Gharbia) einen Ausbruchsversuch, der nach ein paar Stunden in Freiheit wieder zurück in die Haft führt. In drei Wochen ist seine Verhandlung, in der darüber entschieden werden soll, ob er seine Strafe verbüßt hat und der Wiedereinstieg in das gesellschaftliche Leben einsetzen kann. Doch welches Leben erwartet ihn da draußen eigentlich? Zu seiner Mutter wolle er jedenfalls nicht zurück, stellt Joe klar.

Graton und sein Kameramann Olivier Boonjing fangen den zentralen Schauplatz nicht als Ort des Schreckens ein, sondern zeigen (auch) die Gemeinschaft unter den Häftlingen. Hier sind alle – aus unterschiedlichen (Hinter)Gründen heraus – Ausgestoßene. Die Erzieher:innen und Sozialarbeiter:innen sowie die Richterin (Laurence Oltuski), die Joe in dessen Verhandlung verhört, werden nicht als böswillige Gegner:innen gezeichnet, wenngleich sie Dinge sagen und tun, die dem Protagonisten und dessen Umfeld aus Gleichaltrigen nicht gefallen. Wir sehen, wie die Jugendlichen zu Metallschweißern ausgebildet werden, wie sie Schulunterricht erhalten und Sport treiben. Und wir erleben die Enttäuschung, wenn die Bestrebungen nach einer Perspektive, etwa die Aufnahme in ein Internat nach der Zeit im Gefängnis, scheitern.

Zu Joes Wunsch nach Emanzipation kommt plötzlich die Anziehung zu William (Julien de Saint Jean), einem neuen Insassen in der Vollzugsanstalt, der in der Nachbarzelle landet. Ein kurzer Moment der Zweisamkeit, in dem sich die beiden im Außenbereich eine Zigarette teilen, genügt, um die starken Gefühle füreinander zu besiegeln. Radiomusik und Klopfzeichen durchbrechen fortan die Wand zwischen ihren Zellen; bei diversen Gelegenheiten, etwa in der Küche, ergattern sie flüchtige Augenblicke der Zärtlichkeit.

Gerade diese Zärtlichkeit ist das Bemerkenswerteste an Le Paradis. Es geht nicht um Aggression und Triebe, was in diesem Setting nicht ungewöhnlich wäre, sondern um das Bedürfnis nach Nähe. Die Schauspieler Khalil Gharbia (Peter von Kant) und Julien de Saint Jean (Hör auf zu lügen) bringen dieses Verlangen sowie die aufleuchtende Freude in kleinen gemeinsamen Glücksmomenten überzeugend zum Ausdruck.

Insbesondere Joe muss sich als Mann mit arabischen Wurzeln mit verinnerlichten Vorurteilen auseinandersetzen. In Form einer eindrücklichen Rap-Einlage vermittelt er in einer Szene all seinen Zorn. Der Regisseur, der, wie er selbst sagt, „auf der einen Seite tunesischer und auf der anderen Seite belgischer Herkunft“ ist, äußert in einem Interview, dass es ihm wichtig gewesen sei, eine queere arabische Figur zu schaffen, die Zugriff auf ihre schwule Sehnsucht habe und sich auf den eigenen Weg mache. Das ist ihm in Kollaboration mit seinem Hauptdarsteller perfekt gelungen. Der Film geht über das klassische Coming-out-Narrativ hinaus und folgt zwei komplexen Figuren, die auf eine bessere Zukunft hoffen.

„Das ist nicht der richtige Ort dafür“, meint die Sozialarbeiterin Sophie (Eye Haïdara), als ihr die Liebesbeziehung zwischen den beiden adoleszenten Helden bewusst wird. Sie sagt dies nicht aus Hass oder Gemeinheit, sondern eher mit einer beschützenden Absicht. Dabei unterschätzt sie allerdings den bebenden Unwillen zweier junger Menschen, die intensiven Gefühle füreinander noch länger unterdrücken zu müssen.

Le Paradis (2023)

In einer Jugendstrafanstalt bereitet sich der 17-Jährige Joe auf seine Rückkehr in die Gesellschaft vor, unsicher, welches Leben ihn jenseits der Mauern erwartet. Doch als Neuzugang William die Nachbarzelle bezieht, wird Joes Sehnsucht nach Freiheit durch ein anderes Begehren abgelöst. Einander mit wachsender Begierde und Verzweiflung umkreisend, begeben sich Joe und William auf eine Reise der emotionalen Emanzipation.

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