Das 10. Opfer

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Zwischen Pop Art und Gesellschaftskritik

Dass Menschen andere Menschen jagen, gehört schon lange zu den Grundkanons des Kinos. Aus diesem Faszinosum speisen sich Horrorfilme und Thriller um Serienkiller, die zugleich Jäger und Gejagte sind (und so heißt Michael Manns Verfilmung des Romans von Thomas Harris auch konsequenterweise Manhunter, während man, wenn man bei Imdb.com nach dem Titel „Manhunt“ sucht, gleich einige Male fündig wird). Die Menschenjagd ist The Most Dangerous Game, das wussten bereits Ernest B. Schoedsack und Irving Pichel, deren gleichnamiger Film (in Deutschland als Graf Zaroff – Genie des Bösen bekannt) aus dem Jahre 1932 als frühe Auseinandersetzung mit diesem Topos auch heute noch mit gotischem Schauer und für die Zeit ungewöhnlichem Zynismus zu fesseln versteht.
In Elio Petris Das 10. Opfer / La decima vittima aus dem Jahre 1965 ist die Menschenjagd längst Teil des Gesellschaftssystems geworden. Der staatlich geförderte Mord dient der Triebabfuhr und erledigt zudem quasi nebenbei Probleme der Menschheit wie Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit, die zunehmende Überalterung und zudem das massenhafte Morden in Zeiten des Krieges (Hätte es 1939 schon die „große Jagd“ gegeben, so ein Verantwortlicher des zuständigen Ministeriums in einer Szene des Filmes, wäre der Zweite Weltkrieg wohl nie ausgebrochen). Organisiert wird das Ganze von einer staatlichen Stelle, die die Freiwilligen einander zulost – übersteht jemand der „Spieler“ zehn Runden (davon fünf als Jäger und fünf als Opfer), winken hohe Preise, Ruhm und ein sorgenfreies Leben. Allerdings haben es bislang nur 15 Menschen überhaupt geschafft, aus diesem zynischen Spiel als Gewinner hervorzugehen. Die Amerikanerin Caroline Meredith (Ursula Andress) hat schon neun Durchgänge überstanden – noch eine Runde als Jägerin und sie hat ihr großes Ziel erreicht. Ihr nächstes Opfer, so will es der Zentralrechner in Genf, der die Paarungen auslost, soll der Italiener Marcello Polletti (Marcelo Mastroianni) sein, der bereits sechs Jagden überstanden hat. Doch der von den Medien begleitete und von einem Teehersteller gesponserte Showdown, von dem das Opfer nach den Regeln des Spieles nichts weiß, läuft ein wenig aus dem Ruder, als (natürlich – immerhin sind wir in Italien, wo „amore“ erfunden wurde) die Liebe zwischen Täter und Opfer dazwischen kommt.

Was sich zunächst als makabere Dystopie im Stile von Tom Toelles fünf Jahre später entstandenem, mittlerweile legendärem Fernsehfilm Das Millionenspiel liest (die Ähnlichkeit ist keineswegs Zufall, vielmehr basieren beide Filme auf der gleichen Kurzgeschichte mit dem Titel The Prize of Peril von Robert Sheckley), ist dank konsequent durchgehaltenem Space-age-Retrofuturismus, sehr italienischem Liebesgeplänkel und manchem bissigen Seitenhieb auch ein großes Vergnügen. Wobei Gags wie die Adresse Pollittis („Fellinistraße 8½“) dann doch ein wenig bemüht wirken und auch manch anderer Scherz einmal mehr den Zeitgeist der Sechzigerjahre schmerzhaft bewusst macht.

Man kann, nein man muss diese unterschiedslose Nebeneinanderstellung von ernstem Anliegen und Albernheiten, von Dystopie und Liebesfarce, von unbedingtem Stilwillen und politischer Ambition mit dem Abstand von beinahe 50 Jahren irritierend finden. Zugleich aber sind es genau diese ironischen Brechungen, dieses Schwanken zwischen Ambition und Albernheit, die den Geist der Zeit perfekt auf den Punkt bringen. Man spürt in Elio Petris Werk bereits den Hauch des Wandels, der ab dem Jahre 1968 die alten Werte auf den Kopf stellen wird. Und in seinen vielfältigen Bezügen zum Römischen Reich – vom Kolosseum bis hin zu den spätrömisch anmutenden Kulthandlungen der „Sonnenanbeter“ — verdeutlicht der Film die Dekadenz der Gesellschaft. Und zwar sowohl diejenige des untergehenden römischen Imperiums wie auch jene der schönen, neuen Zukunftswelt, die hier beschrieben wird – und damit vermutlich auch implizit die Verfallserscheinungen der Gegenwart der 1960er Jahre.

Elio Petris herrlich absurde, sehr bunte Science Fiction-Komödie über eine ganz und gar unmenschlich gewordene Zukunft ist eine wunderbare Genre-Mixtur, die auch heute noch mit einigem Abstand vor allem Freunde des italienischen Kinos und Fans leicht angetrashten Filmperlen vergangener Zeiten erfreuen dürfte. Und zuletzt: Wann sah man Marcello Mastroianni jemals blond? Und der Bikini, mit dem sich Ursula Andress ihres Jägers entledigt, wäre auch bei James Bond eine gute Idee gewesen.

Das 10. Opfer

Dass Menschen andere Menschen jagen, gehört schon lange zu den Grundkanons des Kinos. Aus diesem Faszinosum speisen sich Horrorfilme und Thriller um Serienkiller, die zugleich Jäger und Gejagte sind (und so heißt Michael Manns Verfilmung des Romans von Thomas Harris auch konsequenterweise „Manhunter“, während man, wenn man bei Imdb.com nach dem Titel „Manhunt“ sucht, gleich mehrere Male fündig wird).
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