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Die Netflix-Serie Altered Carbon verbindet Science-Fiction und eine Detektivgeschichte mit Gesellschaftskritik: Was wäre, wenn wir eigentlich nicht mehr sterben müssen? Spoiler: Für die Starken und Reichen wäre das eine gute Nachricht.

Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm (TV-Serie, 2018)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

You deserve this Sleeve

Vielleicht werde ich einfach alt. In den ersten 15 Minuten der ersten Folge von Altered Carbon gibt es so viel Neues zu verarbeiten, so viele Informationen, Welten und Gesichter einzuordnen, da kann man schnell den Überblick verlieren und ist dann womöglich geneigt, das (so graue Haare vorhanden sind) auf den jahresbedingten Mangel eigener geistiger Elastizität zu schieben.

Und natürlich ist das womöglich ein wenig Absicht, dieser Verweis auf kontinuierliche Jugendlichkeit einerseits (hier wird niemand alt, das Sterben, dazu kommen wir noch, gilt als Anomalie) und andererseits die bewusste Überforderung mit neuer Welterfahrung, mit nicht aufgeschlüsseltem, nicht erklärtem Weltwissen.

Im Grunde hört das dann auch in den späteren Folgen nicht auf. Die Welt dieser Science-Fiction-Serie ist durchdrungen von einer dichten Hintergrundgeschichte, von Historie und Entwicklungen, die zum Teil nur in kleinen Andeutungen überhaupt thematisiert werden – oder aber im Lauf der Serie dann plötzlich eine ganze Folge lang die Handlung bestimmen. Worldbuilding nennt man das, wenn solche ganz eigenen, neuen Welten erschaffen werden – gerade auch, wenn sie womöglich nicht nur für eine Serienstaffel, nicht nur für einen Film gedacht sind. Laeta Kalogridis hat für Altered Carbon auf den nicht eben schlanken Cyberpunk-Roman Das Unsterblichkeitsprogramm von Richard Morgan zurückgegriffen, hat dessen Mythologie und Zeitstrahl angepasst, angedeutet, auserzählt. Und natürlich Platz gelassen für eine Fortsetzung.

Takeshi Kovacs (Will Yun Yen), Supersoldat und Rebell aus dem 22. Jahrhundert, findet sich im Jahr 2384 unsanft geweckt in einem neuen Körper wieder. Seit langem muss man keines natürlichen Todes mehr sterben: Im jungen Kindesalter bekommen alle Menschen eine metallene Speichereinheit, den „Stack“, in die Halswirbelsäule implantiert – und diese kann dann, so man es nicht aus religiösen Gründen ablehnt, in einen neuen Körper transferiert werden. Das eigene Äußere heißt dann meist nur noch „Sleeve“, „Hülle“, und diese Wechselmöglichkeit erlaubt es natürlich besonders den Superreichen, sich optimierte und manipulierte Körper zu leisten. Wer das Geld hat, lässt gleich serienweise Klone seiner selbst herstellen und lebt als „Meth“ (von „Methusalem“) gewissermaßen im immer wieder gleichen Körper praktisch unbegrenzt lange.

Kovacs‘ Bewusstsein wurde in den Körper von Elias Ryker (Joel Kinnaman) übertragen, dem früheren Partner der Polizistin Kristin Ortega (Martha Higareda). Der 375 Jahre alte Meth Laurens Bancroft (James Purefoy) hat ihn für viel Geld aus seiner Gefängnisstrafe wecken lassen, um den Mord an seinem vorherigen Klon aufzuklären, den die Polizei allerdings als Selbstmord einstuft und an den Bancroft selbst jede Erinnerung fehlt. Kovacs lässt sich eher widerwillig für diesen Job rekrutieren und hält mit seiner Abneigung gegenüber Bancroft nicht hinter dem Berg; er lässt sich dann aber immer mehr darauf ein und arbeitet schließlich sogar mit Ortega zusammen, da sein Fall wohl mit dem Tod von Ortegas Schwester und einer Verschwörung gegen Ryker zu tun hat.

Altered Carbon ist das vielleicht bisher größte Serien-Prestige-Projekt von Netflix außerhalb der Marvel-Serien, und man sieht der Serie in jedem Moment den Willen an, sichtbar und erkennbar zu sein. Die Erden-Metropole von Bay City hat nichts mehr vom Sonnenstaat Kalifornien, hier ist es andauernd düster, regnerisch, neondurchflutet; mit anderen Worten: Blade Runner hat sich über dreihundert Jahre in den Alltag eingefressen. Ästhetisch ist das dann noch ein wenig über die Matrix-Filme variiert und mit reichlich blutiger Gewalt und Sex garniert; vor allem Kinnaman trägt seinen Astralkörper gefühlt ein Viertel der Zeit ohne Kleidung durchs Bild.

Sonne und all das genießen eigentlich nur die „Meths“ in ihren riesigen Gebäuden, die über die anscheinend ewigen Wolken ins Licht hinausragen. Aber man sieht sie dort kaum draußen, das mit dem Sonnenbaden hat sich irgendwie nicht so durchgesetzt, obwohl doch Hautkrebs gerade für diese Schicht kein Problem mehr sein sollte. Man pflegt die vornehme Blässe, die aristokratische Langeweile, blasierte Lebensverachtung. Zur Abendunterhaltung lässt die Elite ein verheiratetes Paar sich in Schwerelosigkeit gegenseitig umbringen; wer gewinnt, bekommt ein Upgrade für seine oder ihre „Sleeve“. (Die Kinder, sagen sie, seien das schon gewohnt.)

Der Serie gelingt es blendend, diese gesellschaftliche Veränderung einzufangen: Die völlige Flexibilität in der Wahrnehmung, die man (jedesmal mühevoll) aufbringen muss, um in unterschiedlichen Hüllen die gleiche Person zu sehen. Was, wenn die geliebte erwachsene Tochter, die ermordet wurde, auf einmal im Körper eines übergewichtigen Nazi-Schlägers vor dir steht?

Dieser Veränderlichkeit steht, auch das wird im Hintergrund der Geschichte sichtbar, eine Rigidität der gesellschaftlichen Ordnung gegenüber. Staatliche Einrichtungen (wie die Polizei von Bay City) scheinen ihre Arbeit nur noch nach Gusto und mit Duldung der Superreichen zu tun; unter welcher Form der Regierung die Menschen leben, wird nie thematisiert. Stattdessen leben die „Meths“ unangefochten, weil unsterblich und mit anscheinend unbegrenzten Ressourcen: Die da oben, alle anderen da unten. Auch räumlich im Wortsinn.

Dazu passend ist die Welt so sexistisch und patriarchal organisiert wie eh und je: Die Körper der (immer weiblichen) Prostituierten sind noch mehr Verfügungsmasse als eh schon, und die Produzenten schöner leerer „Sleeves“ werben nicht nur mit „You deserve this sleeve“, sondern vor allem mit: „Put your wife in me.“ – Steck deine Frau in diesen schönen Körper. Allerdings reproduziert Altered Carbon diese Geschlechterordnung nicht einfach in seiner Erzählung (ein Vorwurf, der Blade Runner 2049 entgegengebracht wurde), sondern gibt den starken und auch sehr ambivalenten Frauen in seiner Erzählung in der zweiten Hälfte der Staffel auch wesentlich mehr Raum.

Mit Altered Carbon hat Netflix sich an ein äußerst ambitioniertes, auch auf Verlängerung angelegtes Serienformat eingelassen; das Worldbuilding ist dabei wesentlich überzeugender und vor allem konsequenter und dichter als zuletzt im Fantasy-Cop-Drama Bright, und die relativ dichte Form von zehn Episoden führt dazu, dass die Serie weniger Längen und Redundanzen kennt als die meisten Marvel-Serien der Plattform (insbesondere Iron First).

Aber Kovacs‘ gelegentliche hardboiled-Kommentare aus dem Off machen aus der Serie noch keinen überzeugenden Neo-Noir, die Sex- und vor allem Gewaltszenen (Blut fließt, Körperteile fliegen) wirken ein wenig zu sehr auf die Schaulust des Publikums hin berechnet (insbesondere eine Sequenz – Vorsicht, Spoiler! –, in der Dichen Lachman als Kovacs‘ Schwester binnen weniger Minuten in immer neu geklonten Inkarnationen wiederholt nackt zum Kampf antritt), während die Figuren trotz all ihrer Sorgen und Getriebenheit nicht wirklich begeistern, mitreißen, mitfiebern lassen.

Mit anderen Worten: Man sieht sich das gerne an, es ist intensiv und aufregend und toll, aber danach fragt man sich dann doch sehr schnell: Und was jetzt? Ein volles Fastfood-Menü: Umfangreich, aber dennoch Fastfood, und danach verlangt man nach mehr. Aber vielleicht ist das das Erfolgsrezept, auf das Netflix letztlich abzielt.

Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm (TV-Serie, 2018)

„Altered Carbon – Das Unsterblichkeitsprogramm“ spielt in einer Zukunft, in der der menschliche Geist digitalisiert, in einen kortikalen Stack heruntergeladen und schließlich in einen neuen Körper platziert werden kann. Im Mittelpunkt der Story steht der Envoy-Soldat Takeshi Kovacs, der nach Jahrhunderten wieder zum Leben erweckt wird, um den versuchten Mordanschlag auf Laurens Bancroft, den reichsten Mann der Welt, zu untersuchen. Doch Kovacs muss erkennen, dass die Vergangenheit nicht annähernd so abgeschlossen ist, wie er dachte.

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