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Martin Scorsese versammelt seine alten Mitstreiter und dreht einen Mafia-Film. Allein das verdient schon Aufmerksamkeit. Aber noch dazu läuft er auf Netflix. Ob das zusammenpasst: Marty und Streaming?

The Irishman (2019)

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Über das Altern und die Zeit

Gleich die erste Sequenz in Martin Scorseses „The Irishman“ ist eine Referenz: die Kamera folgt einem langen Flur, nach und nach ist zu erkennen, dass es sich wohl um ein Pflegeheim handelt. Vor knapp 30 Jahren gab es schon einmal eine lange Kamerafahrt, eine kleine Hommage an „Touch of Evil“, die selbst legendär geworden ist: Ray Liottas Henry Hill betritt den Club Copacabana in „GoodFellas“ und die Kamera folgt ihm durch die Küche in den Clubraum. In „The Irishman“ nun fehlen die Musik, die sprudelnde Energie eines Nachtclubs, vielmehr endet die Fahrt im Pflegeheim auf dem alten Gesicht von Robert De Niros Frank Sheeran. 

Damit ist der Referenzrahmen dieses Films abgesteckt: Wie Henry Hill wird auch Frank Sheeran seine Geschichte erzählen, sie wird ebenfalls von Mord und Verbrechen handeln, von seinem Aufstieg vom LKW-Fahrer zum wichtigen Vertrauten und Killer des Mafioso Russell Bufalino (Joe Pesci) und seinem unvermeidlichen Fall. Es ist die Geschichte eines jungen Mannes, der Fleisch liefert, und zu einem alten Mann wird, der Jimmy Hoffa (Al Pacino) tötet. Aber sie wird nicht nur von Ehre, Erfolg und einem glamourösen Leben handeln; sie wird auch die Schattenseiten dieses Daseins nicht aussparen. 

The Irishman ist ein Mafiafilm von dem Regisseur, der wie kein zweiter dieses Subgenre in den vergangenen 30 Jahren geprägt hat. Aber er ist zugleich auch ein Abgesang auf diese Art von Mafiafilmen, auf die Glorifizierung eines Lebensstils voller Gewalt und Männer. Das wird schon an einem vieldiskutierten Aspekt deutlich: die demonstrative Stummheit der Frauen. Kaum mehr als sechs Worte hat Anna Paquin als Frank Sheerans Tochter Peggy zu sagen. Doch dahinter steckt nicht die Ignoranz eines Regisseurs oder des Drehbuchautors Steven Zillian, vielmehr verweist sie auf die Erzählperspektive: Es ist Frank Sheeran, der hier sein Leben erzählt. Es ist seine Perspektive auf die Frauen in seinem Leben, es ist ein Verweis auf seine eigene Kurzsichtigkeit hinsichtlich seines Tuns und dessen Konsequenzen. In gerade einmal zwei Zeilen erwähnt er, dass er seine erste Frau für eine Kellnerin verlässt. Die Kamera aber fängt immer wieder sehr deutlich ein, wie Peggy schweigt. Wie sie sich mit ihrem Schweigen von ihrem Vater und vor allem dessen Boss distanziert, ein Schweigen, das deutlich kontrastiert wird von ihrer Lebendigkeit, den unhörbaren Gesprächen, sobald sie mit Jimmy Hoffa agiert. In ihrem Schweigen liegen ihre Entscheidungen. Doch in Franks Erinnerung hat sie ihm nie gesagt, was sie denkt.

Dadurch wird das auch zu einem Kommentar auf die Rolle der Frauen in Mafiafilmen, in denen sie weit überwiegend fast nichts zu sagen haben. Sheerans und Russells Ehefrauen sind immer im Gespräch miteinander zu sehen, aber man hört nicht, was sie sagen. Sie reden nur selten mit ihren Ehemännern, sondern miteinander – was sie sagen, spielt in dieser Welt der alten Gangster keine Rolle. Er wisse ja gar nicht, wie das für sie war, sagt Sheerans andere Tochter (Marin Ireland) am Ende des Films. Und tatsächlich stimmt das: Wir wissen es nicht, weil uns Frank seine Geschichte erzählt, es ist sein Blickwinkel. Er dachte, er beschützt seine Töchter, sie aber hatten Angst, ihm etwas zu erzählen, weil sie fürchteten, was er tun könnte. Seine Selbstwahrnehmung passt nicht mit der Realität für seine Familie zusammen. Dazu kommt: Wir wissen sehr viel über das Gangsterleben der Männer, aber von dem Leben der Frauen wissen wir wenig, weil es nur wenige Mafiafilme gibt, in denen sie überhaupt eine Rolle spielen. Hier wird das Schweigen der Frauen auf die Spitze getrieben.

Sicherlich hätte es auch andere Möglichkeiten gegeben, hier hätten die Frauen etwas sagen können. Insbesondere Peggys Sicht auf ihren Vater wäre interessant gewesen: Sie verabscheut ihn, das wird klar, seit sie als Kind mit angesehen hat, wie er einem Lebensmittelhändler die Finger bricht, weil er sie geschubst hat. Was sie darüber hinaus von ihm denkt, erfahren wir nicht – stattdessen fungiert sie als moralisches Zentrum dieses Films über verbrecherische Männer.

Das ist eine von vielen filmemacherischen Entscheidungen in diesem dreieinhalb Stunden langen Werk, bei der man sich unweigerlich fragt, warum Scorsese es genau so inszeniert hat. Warum blickt De Niro immer wieder in die Kamera? Nicht nur in den Sequenzen, in denen er direkt zu den Zuschauern spricht, sondern beispielsweise auch, wenn er den Auftrag bekommt, Hoffa zu töten? Es ist, als müsse er sich noch einmal vergewissern, dass seine Zuhörer mitbekommen, dass er den Auftrag bekommen hat, dass er nicht ablehnen konnte. Als Sheeran, Bufalino und andere Gangster schließlich ins Gefängnis kommen, gibt es gleich mehrere Sequenzen mit einigen nun sehr alten Männern, die sich im Gefängnishof treffen, abermals Brot brechen und Traubensaft trinken (eine weitere GoodFellas-Referenz) – so als sollte die Unvermeidlichkeit dieses Lebens noch mal betont werden. Aber dafür hätte doch eine Sequenz gereicht.

Deshalb ist The Irishman ein interessanter, ein ambivalenter und vielschichtiger Film: Insbesondere in den ersten zweieinhalb Stunden erfüllt er alle Erwartungen an einen Scorsese-Film. Es geht um den Aufstieg eines Gangsters, um Männerfreundschaften, Rivalitäten, Ehre, Schuld, Sünde und Vergebung. Doch in der letzten Stunde kommen weitere Themen hinzu: Altern, Verrat und vielleicht auch Bedauern. Ein weiterer spannender Punkt: Bedauert Frank Sheeran wirklich, was er getan hat? Bereut er den Verrat und Mord an Jimmy Hoffa? Und hier kommt auch die Wirklichkeit ins Spiel: The Irishman basiert auf einem Sachbuch über Frank Sheeran, in dem er angibt, er habe Jimmy Hoffa getötet, jenen legendären Gewerkschaftsboss, der 1975 verschwunden und 1982 für tot erklärt wurde. Das FBI hat das Haus aufgesucht, in dem Sheeran ihn erschossen haben will und dort auch Blutspritzer gefunden. Nur stammten sie nicht von Hoffa. Ist es also wirklich Bedauern, das Sheeran empfindet – oder nicht vielmehr das letzte Steinchen zu einer Legendenbildung, die diesem Leben einen Sinn geben soll?

Viel ist im Vorfeld geschrieben worden über diesen Film, vor allem über das De-Aging der Hauptdarsteller. Tatsächlich ist The Irishman ein guter Film – und man gewöhnt sich erstaunlich schnell an das jüngere Aussehen von De Niro, schneller als an die Schminke in seinen Augen. Dieses Verfahren ermöglicht es zudem, noch einmal über Zeit nachzudenken, die ein wichtiger Faktor in diesem Film ist. Schon das Tempo ist anders als in Scorseses bisherigen Mafiafilmen. Ruhiger, stiller, bisweilen fast kontemplativ. Nach gut drei Stunden sagt Sheeran einmal, man merke gar nicht, wie schnell die Zeit vergeht – doch hier ist zu sehen, wie sie in den Leben dieser Figuren auf der Leinwand vergeht. Zugleich aber auch in den Karrieren der Schauspieler, die sie spielen. Denn es ist ein Stelldichein der bekannten Namen: Natürlich De Niro. Jimmy Hoffa wird gespielt von Al Pacino, seine erstaunlicherweise erste Zusammenarbeit mit Scorsese, und man kommt nicht umhin, immer wieder an Jack Nicholson in Danny De Vitos unterschätztem Jimmy Hoffa zu denken. Pacinos Hoffa ist weniger brutal, weniger viril, dafür geschwätziger und mit überbetonten Worten. Dazu kommen Harvey Keitel, Ray Romano, Bobby Cannavale und vorne weg Joe Pesci, der eigentliche Star dieses Films. Mühelos stellt er unter Beweis, dass er zu Unrecht viel zu lange auf die Rolle des cholerischen kleinen Mannes reduziert wurde. Sein Russell Bufalino strahlt so viel Macht, Selbstgewissheit und Grandeur aus, dass es eine wahre Freude ist, ihm zuzusehen. Und somit ist der Film vielleicht auch das letzte große Werk eines unterschätzen Schauspielers.

The Irishman (2019)

Martin Scorseses neues Werk The Irishman basiert auf dem 2004 erschienen Buch I Heard You Paint Houses von Charles Brandt, das die Jahre behandelt, in denen Frank “The Irishman” Sheeran als Auftragsmörder für die Mafia tätig war. Im Verlauf der fünfjährigen Interviews, die Brandt mit dem Killer führte, gab dieser zu, mehr als 25 Morde begangen zu haben — unter anderem war er auch am Tode des berüchtigten Mafiabosses Jimmy Hoffa beteiligt.

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Meinungen

Julia · 01.12.2019

Ich liebe Gangsterfilme,aber der war mir ne Spur zu lahm. Kam nicht an Casino oder Once upon a time in New York heran. Die Geschichte ist recht langatmig. Die Darsteller sind oldy but goldy. Aber es passiert zu wenig. Eine Stunde weniger hätte es auch getan.

Hotte · 01.12.2019

Hatte mich wirklich auf den Film gefreut. Robert de Niro, Al Pacino und Joe Pesci gemeinsam in einem Mafia-Epos und dann noch von Scorsese? Das kann ja nur ein Knaller werden!

Leider aus meiner Sicht geht das Konzept nicht auf. Die Story hätte bestimmt mehr hergegeben. Zunächst gibt es kaum Aktion. Dann funktioniert die technische Verjüngungskur der Schauspieler nicht wirklich. Robert de Niro z.B. spielt seinen Charakter von den 50er - in die 200er selbst. Über 50 Jahre. Auch wenn per Computertechnik ein paar Falten aus dem Gesicht verschwinden, kann ein fast 80 jähriger eben nicht glaubhaft einen 30 jährigen jungen Mann spielen . Schauspielerisches Talent ist ohne Frage vorhanden, daran liegt es nicht! Das Alter fordert seinen Tribut. Auch an den Bewegungen ist eben nicht zu übersehen, daß die Schauspieler eben keine 30 mehr sind. Vermutlich verzichtet Scorsese auch aus diesem Grund auf viele Actionszenen. Die wenigen Actionszenen - mit den wirklich sehr guten Altstars- wirken zum Teil sehr skurill, wenn nicht sogar unfreiwillig komisch. Da wird für mich komplett die Illusion des Films zerstört.
Es wäre aus meiner Sicht wirklich besser gewesen, die Hauptdarsteller in den jungen Jahren durch passende Schauspieler spielen zu lassen. Wie gesagt, ein 80 Jähriger kann eben nicht glaubhaft einen 30 Jährigen spielen.
Alles in Allem, ein sehr zäher Film, dem die Action fehlt, dafür aber mit grandiosen Schauspielern. Hier wäre deutlich mehr drin gewesen, sehr schade!